Je nachdem in welcher verwandtschaftlichen Beziehung das den Nachzug begehrende Familienmitglied zur in Deutschland aufenthalts- und schutzberechtigten Person steht, gelten neben den allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen besondere Erfordernisse, die für die Erteilung eines Visums erfüllt sein müssen. Diese sollen im Folgenden anhand der jeweiligen Konstellation erläutert werden.
Wie bereits betont, muss die in Deutschland lebende Person über eine Aufenthaltserlaubnis (hierzu vgl. Schutzberechtigte Person in Deutschland) verfügen, vgl. § 29 Abs. 1 Nr.1 AufenthG.
Ein Nachzugsanspruch setzt zudem voraus, dass die Ehe am Ort der Eheschließung rechtsgültig geschlossen worden ist und die freie Absicht besteht, diese eheliche Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet herzustellen und zu wahren, vgl. § 27 Abs. 1 AufenthG.
Eine religiös geschlossene Ehe muss nach dem Recht des Heimatlandes staatlich anerkannt worden sein, um einen Nachzugsanspruch zu begründen. Für die Praxis bedeutet dies, dass im Rahmen des Visumverfahrens nicht nur die Vorlage des Nachweises der religiösen Eheschließung genügt, sondern im Regelfall der Nachweis über die staatliche Anerkennung der Ehe erbracht werden muss.
Soweit von den betroffenen Eheleuten verlangt wird, dass der Nachzug der Herstellung und Wahrung der ehelichen Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet dient, sollen insoweit Missbrauchsfälle der Eheschließung ausgeschlossen werden. So kann ein Visum zum Ehegattennachzug abgelehnt werden, wenn die Ehe nachweislich nur zu dem Zweck eingegangen wurde, um der nachziehenden Person ein Aufenthaltsrecht im Bundesgebiet zu vermitteln („Scheinehe“), vgl. § 27 Abs. 1 Bst. a Nr. 1 AufenthG oder tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen, dass eine Person zur Eheschließung genötigt worden ist („Zwangsehe“), vgl. § 27 Abs. 1 Bst. a Nr. 2 AufenthG. Liegen der zuständigen Auslandsvertretung im Einzelfall Hinweise vor, die eine der vorbezeichneten Annahmen tragen, werden die Eheleute in der Regel einbestellt und unabhängig voneinander (die nachziehende Person durch die Auslandsvertretung, die in Deutschland aufenthaltsberechtigte Person durch die zuständige Ausländerbehörde) befragt. Darüber hinaus verlangen die beteiligten Behörden in der Regel weitere Nachweise zum Beleg der Ernsthaftigkeit der Verbindung (z.B. Nachweise regelmäßiger Kommunikation via Telefon, Email oder Messenger oder auch gemeinsame Fotos etc.). Bestätigt sich der Verdacht der Behörden, wird das Visum zum Zweck des Ehegattennachzugs versagt.
Weiterhin muss die nachziehende Person das 18. Lebensjahr vollendet haben, vgl. § 30 Abs. 1 Nr.1 AufenthG.
Ist eine Eheschließung nach dem jeweiligen Heimatrecht auch vor Erreichen der Volljährigkeit möglich, hatten die deutschen Behörden diese Eheschließung bislang anzuerkennen (Vgl. OLG Bamberg, Beschluss vom 12.05.2016 - 2 UF 58/16 (Beschluss nach § 69 FamFG) – asyl.net: M23863). Ein Visum zum Ehegattennachzug wurde mit Blick auf die Regelung des § 30 Abs. 1 Nr.1 AufenthGin diesen Fallen jedoch häufig erst mit Erreichen der Volljährigkeit erteilt.
Mit Inkraftreten des neuen "Gesetzes zur Bekämpfung von Kinderehen" am 22. Juli 2017 haben die bislang geltenden Regelungen gravierende Änderungen mit weitreichen Folgen für die Anerkennung im Ausland geschlossener Ehen erfahren. Dabei sind seit diesem Stichtag folgende Neuregelungen von besonderer Bedeutung für den Familiennachzug:
Im Ausland wirksam geschlosseneEhen bei denen einer der Ehepartner zum Zeitpunkt der Eheschließung das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet hatte, sind gemäß Art. 13 Abs. 3 Nr. 1 EGBGB nach deutschem Recht unwirksam. Der Ehegattennachzug ist insoweit ausgeschlossen.
Dies gilt nicht, soweit:
Im Ausland wirksam geschlossene Ehen bei denen einer der Ehepartner zum Zeitpunkt der Eheschließung zwar das 16., aber nicht das 18. Lebensjahr vollendet hatte, sind gemäß Art. 13 Abs. 3 Nr. 2 EGBGB nach deutschem Recht aufhebbar.
Dies gilt nicht, soweit:
der bei Eheschließung minderjährige Ehegatte mittlerweile volljährig ist und zu erkennen gibt, dass er die Ehe fortsetzen möchte, vgl. § 1315 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BGB, oder
auf Grund außergewöhnlicher Umstände die Aufhebung der Ehe eine so schwere Härte für den minderjährigen Ehegatten darstellen würde, dass die Aufrechterhaltung der Ehe ausnahmsweise geboten erscheint, vgl. § 1315 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BGB.
Unter dem Begriff der "schweren Härte" sind ausweislich der Gesetzesbegründung vor allem gravierende Einzelfälle von schweren und lebensbedrohlichen Erkrankungen, sowie eine krankheitsbedingte Suizidabsicht des Minderjährigen zu verstehen (vgl. BT-Drs. 18/12086, S.17), wobei von Seiten der Bundesregierung darauf hingewiesen wurde, dass dies keine abschließende Aufzählung der Härtefälle sei (vgl. BT-Drs. 18/12377, S. 11).
Gemäß § 98 Abs. 2 FamFG ist für die Aufhebung einer Ehe das Familiengericht zuständig. Dies gilt jedoch nur, soweit sich der Ehepartner, der bei Eheschließung 16 oder 17 Jahre alt war, im Bundesgebiet aufhält. Bis zur Aufhebung bleibt die Ehe wirksam.
Ist die im Ausland geschlossene Ehe nach den vorbezeichneten Grundsätzen wirksam, kann für den Ehegattennachzug eine Ausnahme vom Erfordernis der Volljährigkeit zur Vermeidung einer besonderen Härte gemacht werden, vgl. § 30 Abs. 2 Satz 1 AufenthG. In solchen Fällen muss die Erteilung des Visums bzw. der darauffolgenden Aufenthaltserlaubnis notwendiges Mittel zur Vermeidung der besonderen Härte sein (Bsp.: unzumutbares Abwarten bei Schwangerschaft und baldiges Erreichen der Volljährigkeit). Beachtet werden sollte jedoch, dass die Einreise ins Bundesgebiet vor Erreichen der Volljährigkeit unter Umständen die Aufhebung der Ehe ermöglicht (vgl. § 98 Abs. 2 FamFG), soweit nicht der Ausschlussgrund der schweren Härte gemäß § 1315 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BGB zum Tragen kommt.
Ein entsprechender Altersnachweis wird regelmäßig durch die Vorlage von Reise- bzw. Ausweisdokumenten sowie einer Geburtsurkunde erbracht. In Herkunftsländern mit nicht zuverlässigen Personenstands- und Urkundenwesen kann es dazu kommen, sofern im Einzelfall tatsächliche Anhaltspunkte für begründete Zweifel an der Altersangabe vorliegen, das die Auslandsvertretung ergänzende Sachverhaltsermittlungen vornimmt oder auf eine medizinische Altersfeststellung zurückgreift, was das Einverständnis der betroffenen Person voraussetzt. Die Kosten solcher Maßnahmen muss die antragstellende Person gemäß ihrer Beibringungsobliegenheit des § 82 Abs. 1 AufenthG tragen, vgl. Visumhandbuch, S. 5 und 598.
Das Erfordernis des Nachweises einfacher Deutschkenntnisse (A1-Niveau) gilt für den Nachzug zu einem Schutzberechtigten mit einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 23 Abs. 4 (Resettlement-Flüchtlinge), § 25 Abs. 1 (Asylberechtigte) und § 25 Abs. 2 Alt. 1 (anerkannte Flüchtlinge) nicht, soweit die Ehe bzw. Lebenspartnerschaft bereits bestand als die schutzberechtigte Person ihren Lebensmittelpunkt ins Bundesgebiet verlagerte, vgl. § 30 Abs. 1. Satz 3 Nr.1 AufenthG.
Sollte die Ehe bzw. Lebenspartnerschaft erst nach Einreise ins Bundesgebiet begründet worden sein, kommt eine Ausnahme in Betracht, soweit die nachziehende Person aufgrund körperlicher, geistiger oder seelischer Krankheit oder Behinderung nicht in der Lage ist, die notwendigen Sprachkenntnisse zu erwerben, vgl. § 30 Abs. 1. Satz 3 Nr.2 AufenthG. Für weiterführende Informationen vgl. Visumhandbuch S. 452 f.
Zudem können es besondere Umstände des Einzelfallsunmöglich oder unzumutbar machen, vor der Einreise die erforderlichen Sprachkenntnisse zu erwerben (z.B. fehlende Zugangsmöglichkeit, Alter, Bildungsniveau oder finanzielle Lage der nachzugswilligen Person) und erlauben ein Absehen von dieser Voraussetzung, vgl. § 30 Abs. 1. Satz 3 Nr.6 AufenthG. Mit einer Aufzählung von Einzelfallumständen vertiefend: EUGH, Urteil vom 09.07.2015 – C-153/14 - K und A gegen Niederlande, asyl.net: M23038, Asylmagazin 9/2015, S. 300 ff.
Zur möglichen Unvereinbarkeit einer solchen Regelung, die an den Zeitpunkt der Eheschließung anknüpft, mit dem Recht auf Achtung des Familienlebens (Art. 8 EMRK) und dem Diskriminierungsverbot (Art. 14 EMRK), vgl. auch Urteil des EGMR vom 06.11.2012 -22431/09 - Hode & Abdi v. Großbritannien.
Vom Erfordernis der Sicherung des Lebensunterhaltes und dem Nachweis ausreichenden Wohnraums ist in den Fällen des § 29 Abs. 2 AufenthG abzusehen, vgl. Ausführungen unter Vereinfachter Familiennachzug zu Schutzberechtigten.
Personen in einer lebenspartnerschaftlichen Gemeinschaft, worunter das AufenthG Gemeinschaften versteht, die von zwei gleichgeschlechtlichen Partnern oder Partnerinnen im Sinne des Lebenspartnerschaftsgesetzes (LPartG) eingegangen werden, sind Eheleuten gemäß § 27 Abs. 2 AufenthG hinsichtlich ihres Nachzugsanspruchs gleichgestellt. Soweit die Lebenspartnerschaft nach ausländischem Recht geschlossen wurde, muss auch hier der Nachweis erbracht werden, dass sie staatlich anerkannt wurde und muss sie in ihrer Ausgestaltung der deutschen Lebenspartnerschaft entsprechen, vgl. Nr. 27.2.1. AVwV-AufenthG.
Im Zusammenhang mit dem Ehegattennachzug erlangt zudem die Thematik der Mehrehe besondere Bedeutung für die Beratungspraxis.
Der Fall des Ehegattennachzugs in Mehrehe ist in § 30 Abs. 4 AufenthG geregelt. Dabei sollen die Behörden zunächst die zivilrechtliche Vorfrage prüfen, inwieweit nach dem auf beide Eheleute jeweils anwendbaren Personalstatut (Art. 3 Abs. 2, 5 Abs. 2, 13, 14, 17 EGBGB) eine wirksame Eheschließung stattgefunden hat. Insbesondere in muslimischen Rechtsordnungen unterliegt die wirksame Eingehung einer Mehrehe häufig besonderen verfahrens- und materiellrechtlichen Voraussetzungen, vgl. Visumshandbuch, S. 214-215.
Liegt zwischen den Ehegatten eine wirksame (Mehr-) Eheschließung vor, besteht nach § 30 Abs. 4 AufenthG nur insoweit ein Nachzugsrecht, als in Deutschland die eheliche Lebensgemeinschaft nicht schon mit einem anderen Ehegatten geführt wird, denn nach einhelliger Auffassung unterliegt die Mehrehe nicht dem Schutz von Art. 6 I GG, vgl. OVG Niedersachen, Urteil vom 29.11.2005 – 10 LB 84/05. Daher schließt § 30 Abs. 4 AufenthG, in Umsetzung der Vorgaben des Art. 4 Abs. 4 FamZ-RL, den Nachzug zweiter oder dritter Ehegatten aus.
Offen bleibt jedoch die Möglichkeit, dass dem weiteren Ehepartner oder -partnerin bei einer nach dem Heimatrecht wirksam geschlossenen Mehrehe der Familiennachzug im Ermessenswege gemäß der Härtefallregelung des § 36 Abs. 2 AufenthG gestattet werden kann, vgl. VG Berlin, Gerichtsbescheid vom 08.05.2015, 28 K 93.14 V (bezüglich der gleichzeitigen Antragstellung des Familiennachzugs zweier (Mehr-)Ehegatten. Ein Nachzug müsste in diesem Fall, der Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte dienen und ist grundsätzlich vom Erfordernis der eigenständigen Lebensunterhaltssicherung und dem Nachweis ausreichenden Wohnraums abhängig, vgl. vertiefend Nachzug sonstiger Familienangehöriger.
Für ein minderjähriges und unverheiratetes Kind, besteht ein Nachzugsanspruch, wenn beide Eltern oder der allein sorgeberechtigte Elternteil eine Aufenthaltserlaubnis (hierzu Schutzberechtigte Person in Deutschland) besitzen, vgl. § 32 Abs. 1 AufenthG.
Als Kind im Sinne des § 32 AufenthG gilt nicht nur das leibliche Kind, sondern auch das Adoptivkind, vgl. insoweit Art. 4 Abs. 1 Bst. b und Bst. c FamZ-RL. Zu den Anforderungen an die Adoption siehe Ausführungen zu Nachzug der Eltern zu unbegleiteten Minderjährigen.
Pflegkinder haben kein Nachzugsrecht nach §32 AufenthG. Denkbar ist in diesen Fällen ein Nachzug nach Maßgabe der Härtefallregelung des § 36 Abs. 2 AufenthG.
Ein Nachzugsrecht von Stiefkindern ist umstritten. Während nach dem Wortlaut des Art. 4 Abs. 1 Satz 1 Bst. d FamZ-RL ein Anspruch auf Familienzusammenführung mit einem Stiefelternteil besteht, soll sich das Nachzugsrecht des Stiefkindes an dem des mitziehenden leiblichen Elternteils orientieren. Damit wird es für den Nachzug des Stiefkindes maßgeblich auf die Sicherung des Lebensunterhaltes entsprechend der allgemeinen Voraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr.1 AufenthG ankommen, da der mitziehende leibliche Elternteil (der selbst im Wege des Ehegattennachzugs einreist) nicht die Privilegierung des § 29 Abs. 2 Satz 2 AufenthG vermitteln kann. Ein Nachzug zum Stiefelternteil soll nur zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte entsprechend § 36 Abs. 2 AufenthG möglich sein, vgl. Nr. 27.1.5. AVwV-AufenthG.
Voraussetzung für die Erteilung eines Visums zum Kindernachzug ist zudem, dass der Elternteil zu dem der Nachzug begehrt wird, im Besitz des (alleinigen) Sorgerechts ist. Das Sorgerecht richtet sich in der Regel nach dem Recht des Staates in dem das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat (Art. 16 Abs. 1 KSÜ). Hat der andere Elternteil, der im Heimatland verbleibt, nach dortiger Rechtslage ebenfalls die elterliche Sorge, so ist eine Übertragung der alleinigen elterlichen Sorge durch Beschluss des Herkunftsstaates auf den Deutschland lebenden Elternteil nötig. Ist eine Übertragung des Sorgerechts nicht möglich, weil das Recht des Herkunftsstaates dies nicht kennt, ist es seit einer Gesetzesänderung vom 06.09.2013 ausreichend, wenn der im Ausland verbleibende Elternteil gegenüber der zuständigen Auslandsvertretung sein Einverständnis mit dem Aufenthalt des Kindes im Bundesgebiet erklärt, vgl. § 32 Abs. 3 AufenthG.
Hinweis! Auch in den Fällen, in denen der in Deutschland lebende sorgeberechtigte Elternteil nicht den Nachweis führen kann, dass er über das alleinige Sorgerecht oder das erforderliche Einverständnis verfügt (z.B. durch Urteil eines Gerichts, vgl. AG Köpenick, Beschluss vom 23.09.2016 - 23 F 68/16 – asyl.net: M24384), weil der andere Elternteil verstorben oder nicht auffindbar ist, verlangen die zuständigen Auslandsvertretungen in der Regel eine Urkunde zum Verbleib des Elternteils (z.B. eine Sterbeurkunde). Im Einzelfall sollte mit der zuständigen Auslandsvertretung geklärt werden, wie ein solcher Nachweis im konkreten Einzelfall erbracht werden kann.
Die Minderjährigkeit muss bei Antragstellung vorliegen. Ist ein Termin beantragt, verzögert sich jedoch die persönliche Vorsprache bei der zuständigen Auslandsvertretung zur Antragstellung aufgrund eines erheblichen Terminaufkommens, ist dabei auf die fristwahrende Anzeige oder einen entsprechenden schriftlichen Antrag bei den zuständigen Behörden abzustellen, hierzu vertiefend Fristen. Wurde ein notwendiger Antrag zum Familiennachzug im Rahmen einer persönlichen Vorsprache gestellt und verzögert sich die Erteilung des Visums, so dass das Kind in der Zwischenzeit die Volljährigkeit erreicht, ist dies ebenso unerheblich für den Nachzugsanspruch, da dieser Umstand nicht in den Verantwortungsbereich des nachzugswilligen Kindes fällt.
Hegt die zuständige Auslandvertretung im Einzelfall konkrete Zweifel an der Minderjährigkeit des nachzugswilligen Kindes und lassen sich diese Zweifel nicht durch die Vorlage geeigneter Dokumente (wie Pass, Geburtsurkunde, Auszug aus dem Personenstandsregister etc.) ausräumen, kann es in seltenen Fällen dazu kommen, dass die Auslandsvertretung die Begutachtung des Kindesalters durch einen Vertrauensarzt oder eine Vertrauensärztin veranlasst, vgl. Visumshandbuch, S. 4.
Deutschkenntnisse oder eine positive Integrationsprognose des nachzugswilligen Kindes werden nicht verlangt, soweit der Nachzug zu einem Elternteil erfolgt, der eine Aufenthaltserlaubnis als Asylberechtigter, anerkannter Flüchtling oder subsidiär Schutzberechtigter besitzt, vgl. § 32 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 AufenthG.
Vom Erfordernis der Sicherung des Lebensunterhaltes und dem Nachweis ausreichenden Wohnraums ist in den Fällen des § 29 Abs. 2 AufenthG abzusehen, vgl. Ausführungen unter Vereinfachter Familiennachzug zu Schutzberechtigten.
Volljährige Kinder haben keinen Nachzugsanspruch gemäß § 32 Abs. 1 AufenthG. Die Erteilung eines Visums zum Zweck des Familiennachzugs steht in diesen Fällen im Ermessen der Behörden und erfordert grundsätzlich das Vorliegen einer außergewöhnlichen Härte, vgl. hierzu Ausführungen zu § 36 Abs. 2 AufenthG – Nachzug sonstiger Familienangehöriger. Zudem gilt im Falle des § 36 Abs. 2 AufenthG die Voraussetzung des Nachweises der Sicherung des Lebensunterhalts sowie ausreichendem Wohnraum. Im Einzelfall kann bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen eine individuelle humanitäre Aufnahme im Rahmen des § 22 Satz 1 AufenthG in Betracht kommen, vgl. hierzu Aufnahme nach § 22 Satz 1 AufenthG. Dies sollte gegebenenfalls im Rahmen einer Beratung umfassend geprüft werden.
Hält sich ein minderjähriges Kind, welches eine Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Abs. 4 (Resettlement-Flüchtlinge), § 25 Abs. 1 (Asylberechtigte) oder Abs. 2 Alt. 1 (anerkannte Flüchtlinge) AufenthG oder eine dementsprechende Niederlassungserlaubnis besitzt im Bundesgebiet ohne einen sorgeberechtigten Elternteil auf (unbegleitet), gewährt § 36 Abs. 1 AufenthG den Eltern dieses Kindes einen Nachzugsanspruch.
Als „Eltern“ gelten hierbei zunächst die leiblichen Eltern gemäß § 1589 BGB. Der Nachzugsanspruch kann grundsätzlich aber auch Adoptiveltern zustehen (vgl. BT-Drs. 16/5065, S. 176). Denn nach dem deutschen Recht führt eine Adoption dazu, dass Verwandtschaftsverhältnisse zu den leiblichen Eltern erlöschen und das Verwandtschaftsverhältnis zu den Annehmenden gemäß §§ 1754, 1755 BGB begründet wird. So werden die Adoptiveltern zu Verwandten in grader aufsteigender Linie ersten Grades, wie es Art. 10 Abs. 3 Bst. a FamZ-RL für einen Nachzugsanspruch verlangt. Gemäß § 22 EGBGB unterliegt die Adoption dem Recht des Staates, welchem die Person angehört, die das Kind annehmen will. Daher ist im Einzelfall unter Hinzuziehung des jeweiligen Rechtsregimes zu prüfen, ob eine dem deutschen Recht vergleichbare Volladoption angenommen werden kann, durch die eine entsprechende Verwandtschaftsbeziehung begründet wird.
Die Voraussetzung, dass sich kein sorgeberechtigter Elternteil im Bundesgebiet aufhält, ist im Übrigen auch dann erfüllt, wenn ein Elternteil zeitgleich oder im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit dem anderen Elternteil den Lebensmittelpunkt ins Bundesgebiet verlagert (BVerwG, Urteil vom 18.04.2013, Rs. 1 C 9.12, Rn.13, asyl.net: M20813). Die effektive Durchsetzung des Minderjährigenschutzes nach Art. 10 Abs. 3 Bst. a FamZ-RL verbietet zudem jede rechtswidrige Verwaltungspraxis, welche den grundsätzlich beiden Eltern zustehenden Nachzugsanspruch vereitelt.
Anders als in den vorbezeichneten Fällen ist im Rahmen des Elternnachzugs grundsätzlich von den Voraussetzungen der Lebensunterhaltssicherung und dem Nachweis ausreichenden Wohnraums abzusehen, vgl. § 36 Abs. 1 AufenthG. Dies deckt sich insoweit mit den europarechtlichen Vorgaben der FamZ-RL. Denn gemäß Art. 10 Abs. 3 Bst. a FamZ-RL haben die Mitgliedstaaten den Eltern eines unbegleiteten minderjährigen Kindes die Einreise und den Aufenthalt unabhängig von diesen Voraussetzungen zu gestatten.
Zudem ist kein Nachweis von Sprachkenntnissen erforderlich.
Ein Anspruch auf Elternnachzug besteht nach Maßgabe des § 36 Abs. 1 AufenthG nur solang das in Deutschland lebende, unbegleitete Kind „minderjährig“ ist. Damit kommt der Frage eine erhebliche Bedeutung zu, auf welchen Zeitpunkt für die Bestimmung der Minderjährigkeit des den Nachzug vermittelnden Kindes abzustellen ist.
In einem wegweisenden Urteil vom 12.4.2018 entschied der Europäische Gerichtshof (EuGH) hierzu, dass eine Person, die zum Zeitpunkt ihrer Einreise und Asylantragstellung in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union unter 18 Jahre alt war, aber während des Asylverfahrens die Volljährigkeit erreicht und später als Flüchtling anerkannt wird, als minderjährig im Sinne der Definition von Art. 2 Bst. f FamZ-RL anzusehen ist und daher ein Recht auf Familiennachzug nach Art. 10 Abs. 3 Bst. a FamZ-RL fortbesteht, soweit der Familiennachzug innerhalb von 3 Monaten nach Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft beantragt wird (vgl. Urteil vom 12.04.2018, C-550/16, A und S gegen die Niederlande, asylnet: M26143, sowie asylnet: Meldung vom 16.04.2018).
Zur Bedeutung dieser Entscheidung für die bis dato geltende, deutsche Rechtspraxis siehe: Beitrag "Familiennachzug zu volljährig gewordenen unbegleiteten Minderjährigen. Anmerkungen zum EuGH-Urteil vom 12. April 2018 in der Rechtssache A. und S." von Heiko Habbe im Asylmagazin 5/2018, S. 149-153 heraus.
Das Auswärtige Amt lehnte die Anwendung des vorbezeichneten EuGH-Urteils und damit einen Nachzug der Eltern nach Erreichen der Volljährigkeit des als Flüchtling anerkannten Kindes bislang unter Bezugnahme auf die bisherige Rechtsprechung des BVerwG ab, wonach für die Beurteilung der Minderjährigkeit auf den Zeitpunkt der letzten behördlichen/ tatsachengerichtlichen Entscheidung abzustellen sei (vgl. Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der BT-Abgegeordneten Ulla Jeplke vom 21.01.2019, S. 26). Zudem wurde darauf verwiesen, dass der niederländische Rechtsrahmen nicht mit der in Deutschland geltenden Gesetzeslage vergleichbar sei, da das deutsche Aufenthaltsgesetz den nachziehenden Eltern kein eigenständiges Aufenthaltsrecht vermitteln würde, sobald das hier lebende Kind die Volljährigkeit erreiche.
Mit einem weiteren wichtigen Urteil vom 01.08.2022 bestätigte der EuGH seine vorbezeichnete Rechtsprechung auch für den deutschen Rechtsraum (Urteil in der Rechtssache C 273/20 und C-355/20, SW, BL und BC gg. Deutschland, asyl.net: Meldung vom 01.08.2022) und stellte nochmals klar, dass ein Abstellen auf den Zeitpunkt, zu dem die zuständige Behörde über den Antrag auf Einreise und Aufenthalt im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaates zum Zweck der Familienzusammenführung entscheidet (Entscheidung über den Nachzugsantrag der Eltern), als Zeitpunkt, nach dem sich die Beurteilung der Minderjährigkeit des hier lebenden anerkannten Flüchtlings richtet, weder mit den Zielen der Richtlinie betreffend das Recht auf Familienzusammenführung (FamZ-RL) noch mit den Anforderungen in Einklang stünde, die sich aus der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ergeben. Daher darf der Familiennachzug von Eltern zu hier lebenden, ursprünglich als unbegleitete Minderjährige eingereisten anerkannten Flüchtlingen nicht mit dem Argument abgelehnt werden, dass die hier lebende Person vor der Entscheidung über den Antrag auf Familienzusammenführung bereits volljährig geworden ist.
Darüber hinaus machte der EuGH deutlich, dass Art. 13 Abs. 2 i.V.m. Art. 13 Abs. 1 FamZ-RL die Mitgliedstaaten verpflichte, den Angehörigen ein Aufenthaltsrecht für mindestens 1 Jahr zu gewähren, sobald ihrem Antrag auf Familiennachzug stattgegeben wurde. Daraus resultiere die Pflicht den Aufenthaltstitel der Eltern auch dann für ein Jahr zu erteilen, wenn der Minderjährige bereits die Volljährigkeit erreicht habe.
Soweit die Minderjährigkeit des den Nachzug vermittelnden Kindes in Frage steht, ergeben sich aus der Rechtssprechung des EuGH folgende Hinweise für die Beratungspraxis:
[Hinweis: Dies soll nach einem Erst-recht-Schluss des VG Berlin auch dann gelten, wenn die Volljährigkeit des Kindes erst im Laufe des Nachzugsverfahrens eintritt (VG Berlin, Urteil vom 01.02.2019 - 15 K 936.17 V - asyl.net: M27094 und VG Berlin, Urteil vom 30.01.2019 - 20 K 538.17 V - asyl.net: M27126).]
Zu beachten ist, dass die vom EuGH entwickelten Grundsätze weder auf subsidiär Schutzberechtigte, noch rückwirkend auf sogenannte „Altfälle“ Anwendung finden. Hierunter sind z.B. Fälle zu verstehen, bei denen die ablehnende Entscheidung über den Nachzugsantrag der Eltern bereits bestandskräftig geworden ist und daher keine Rechtsmittel mehr gegen diese Entscheidung ergriffen werden können.
Vertiefende Hinweise zum Vorgehen für die Beratungspraxis formulieren die Fachinformationen des DRK-Suchdienstes zum Familiennachzug von und zu Flüchtlingen vom Juni 2018, S. 5ff. und September 2018, die auch nach dem Urteil des EuGH vom 01.08.2022 weiterhin Bestand haben.
Schließlich stellt der EuGH in dem vorbezeichneten Urteil vom 01.08.2022 heraus, dass die Ablehnung eines Antrags auf Familienzusammenführung eines Elternteils/ der Eltern mit dem als Flüchtling anerkannten minderjährigen Kind nicht allein damit begründet werden kann, dass die Familie während der Zeit ihrer Trennung, die auf eine Sondersituation des Kindes als Flüchtling zurückzuführen ist, kein echtes Familienleben geführt habe und damit keine tatsächliche familiäre Bindung (im Sinne des Art. 16 Abs. 1 Bst. b FamZ-RL) bestehe. Es gehe auch die Annahme fehl, dass jegliche familiäre Bindung mit Eintritt der Volljährigkeit wegfalle. Demgegenüber betont der EuGH aber auch, dass die bloße Verwandtschaft in gerader aufsteigender Linie ersten Grades für die Annahme einer tatsächlichen familiären Beziehung nicht genüge. Vielmehr bedürfe es hierfür der Feststellung, dass die familiäre Bindung wirklich gegeben ist oder der Wille besteht, eine solche Bindung herzustellen oder aufrechtzuerhalten. Nach Ansicht des EuGH ist es in diesem Zusammenhang nicht erforderlich, dass das zusammenführende Kind und der betreffenden Elternteil/ die Eltern im selben Haushalt bzw. unter einem Dach zusammenleben oder sich gegenseitig finanziell unterstützen. Auch gelegentliche Besuche, sofern sie möglich sind, und regelmäßige Kontakte jedweder Art können die Annahme begründen, dass diese Personen persönliche und emotionale Beziehungen wieder aufbauen, und damit als Beleg für das Bestehen einer tatsächlichen familiären Beziehung genügen. Dies sollte im Antragsverfahren hinreichend dargelegt werden.
Soweit ein Nachzug unter den vorbezeichneten Regelungen ausscheidet, kommt eine Zusammenführung „sonstiger Familienangehöriger“ mit der in Deutschland aufenthaltsberechtigten Person nach Maßgabe des § 36 Abs. 2 AufenthG in Betracht, wenn dies zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte erforderlich ist.
Vom Begriff der „sonstigen Familienangehörigen“ werden insbesondere Angehörige erfasst, die nicht zur Kernfamilie zählen und damit nicht über einen Nachzugsanspruch verfügen. Dies können Großeltern, volljährige Kinder, Geschwister, Onkel oder Tanten, Nichten und Neffen, Vollwaisen, Pflege- und Stiefkinder sein.
Der Wortlaut der außergewöhnlichen Härte macht bereits deutlich, dass dieser Nachzugsmöglichkeit eine hohe Hürde gesetzt wird. So kann das Vorliegen von einer außergewöhnlichen Härte dann angenommen werden, wenn die Ablehnung des begehrten Aufenthaltstitels bzw. Visums im Einzelfall zu Härten führt, welche unter Berücksichtigung des Schutzgebotes von Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 GG im Vergleich zu den nach §§ 27 bis 32 AufenthG gestatteten und den nicht erlaubten Fällen des Familiennachzugs als außergewöhnlich zu bewerten sind. Dazu muss ein konkreter Einzelfall vorliegen, der in seiner Art und Schwere so gravierend ist, dass die Versagung des Aufenthaltstitels bzw. Visums zu einer unerträglichen Härte führen würde, die mit Blick auf das Schutzgebot des Art. 6 GG und den Zweck der §§ 27 ff. AufenthG unerträglich wäre und somit ausnahmsweise zur Erteilung des Visums führt.
Hiervon können Fälle erfasst werden, in denen ein Familienmitglied auf die Lebenshilfe eines anderen Familienmitglieds durch die Herstellung der familiären Gemeinschaft zwingend angewiesen ist (besondere Betreuungsbedürftigkeit) und die Lebenshilfe zumutbar nur im Bundesgebiet erbracht werden kann (keinerlei Betreuungsmöglichkeit im Herkunftsstaat, vgl. Nr. 36.2.2.3. AVwV-AufenthG). Betreffend der Visumserteilung zur Pflege eines Angehörigen wegen außergewöhnlicher Härte vgl. Beschluss des OVG Berlin-Brandenburg vom 18.12.2019 - 11 N 59.19, asyl.net: M27973.
Härtefallbegründende Umstände müssen sich stets aus den individuellen Besonderheiten des Einzelfalls ergeben (z.B. Krankheit, Behinderung, Pflegebedürftigkeit, psychische Not). Umstände die sich aus den allgemeinen Lebensverhältnissen im Herkunftsland ergeben, können im Rahmen einer außergewöhnlichen Härte nicht berücksichtigt werden. Dies meint im Einzelnen ungünstige schulische, wirtschaftliche, soziale oder sonstige Umstände.
Zusätzlich erschwerend wirkt die Tatsache, dass im Rahmen des Nachzugs nach § 36 Abs. 2 AufenthG regelmäßig der Nachweis der Lebensunterhaltssicherung und des ausreichenden Wohnraums zu erbringen ist. Die Privilegierung des § 29 Abs. 2 Satz 2 AufenthG findet hier keine Anwendung.
In der Beratungspraxis erlangen wiederholt Konstellationen, in denen Eltern zu unbegleiteten, minderjährigen Schutzberechtigten mit minderjährigen Geschwistern des Schutzberechtigten gemeinsam nachziehen möchten, große Bedeutung:
Die Eltern erhalten dabei unter Verzicht auf den Nachweis ausreichenden Wohnraums und der Lebensunterhaltssicherung ein Visum nach Maßgabe der §§ 6 Abs. 3 i.V.m. 36 Abs. 1 AufenthG.
Der nach dem AufenthG bestehende Nachzugsanspruch entspricht den Vorgaben des Art. 10 Abs. 3 Bst. a FamZ-RL und betrifft nach seinem Wortlaut ausschließlich Verwandte des unbegleiteten minderjährigen Schutzberechtigen in gerader aufsteigender Linie ersten Grades (Eltern).
Einen Nachzugsanspruch für Geschwister in dieser Form wird durch die FamZ-RL nicht festgeschrieben. Ihr Nachzugsrecht leitet sich nach Ansicht des deutschen Gesetzgebers von den nachziehenden Eltern ab und ist an den Voraussetzungen der § 32 AufenthG zu messen. Darüber hinaus kommt ein Nachzug zum in Deutschland aufhältigen Geschwisterkind nur nach Maßgabe des § 36 Abs. 2 AufenthG Betracht. Dieser Sichtweise folgt auch das Auswärtige Amt, was für die Entscheidungspraxis der Auslandsvertretungen maßgeblich ist, vgl. Runderlass des Auswärtigen Amtes vom 20.03.2017.
Dabei steht dem Nachzugsrecht des Geschwisterkindes nach § 32 AufenthG nach einheitlicher Rechtsprechung grundsätzlich nicht entgegen, dass die Eltern in der hier beschriebenen Konstellation „nur“ ein befristetes Visum nach § 6 Abs. 3 i.V.m. 36 Abs. 1 AufenthG zum Zeitpunkt der Visumbeantragung besitzen und gemeinsam mit dem minderjährigen Geschwisterkind ins Bundesgebiet einreisen möchten. Denn bereits die Erteilung der elterlichen Visa gemäß § 6 Abs. 3 Satz 2 AufenthG richtet sich nach den Vorschriften für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. Beabsichtigen die Eltern mit dem nachzugswilligen Geschwisterkind in familiärer Gemeinschaft zu leben, wäre es reiner Formalismus, die sich an das Visum anschließende Erteilung der Aufenthaltserlaubnis abzuwarten, vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 22.12.2016 – OVG 3 S 106.16, Rn. 3, asyl.net: M24564; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 22.12.2016 – OVG 3 S 98.16, Rn.3, asyl.net: M24860; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 21.12.2015 – OVG 3 S 95.15, Rn.2; so auch Nr. 29.1.2.2 der AVwV-AufenthG.
Eine Einschränkung des gleichzeitigen Elternnachzugs mit minderjährigen Geschwistern, sollte bislang in den Fällen gelten, in denen die Volljährigkeit des in Deutschland bereits schutzberechtigten, minderjährigen Kindes innerhalb von 90 Tagen nach Visumserteilung für die Eltern eintritt, da die Eltern in diesem Fall kein dauerhaftes Aufenthaltsrecht erhalten, was ein Nachzugsrecht des Geschwisterkindes jedoch voraussetzen würde, vgl. Runderlass des Auswärtigen Amtes vom 20.03.2017. Diese Rechtsauffassung ist nunmehr überholt, vgl. Fachinformation des DRK-Suchdienstes zum Familiennachzug von und zu Flüchtlingen vom April 2019 (S.5).
Probleme hinsichtlich des Geschwisternachzugs bereitet, dass in der behördlichen Praxis ein Visum häufig aus Gründen mangelnder Lebensunterhaltssicherung und fehlendem ausreichenden Wohnraums abgelehnt wird.
Denn sowohl der Kindernachzug (§ 32 AufenthG) als auch ein Nachzug im Rahmen des § 36 Abs. 2 AufenthG verlangen nach der Systematik des AufenthG grundsätzlich die Erfüllung beider Voraussetzungen. Denn da die nachzugsberechtigten Eltern nicht selbst über ein Aufenthaltsrecht nach Maßgabe des § 29 Abs. 2 Satz 1 AufenthG verfügen, findet die Privilegierung des § 29 Abs. 2 Satz 2 AufenthG (Absehen vom Erfordernis der Lebensunterhaltssicherung und ausreichendem Wohnraum) beim Geschwisternachzug in dieser Konstellation keine Anwendung. Daher steht es im Ermessen der zuständigen Auslandsvertretung und Ausländerbehörde vom Erfordernis des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG abzusehen, welches in der derzeitigen Behördenpraxis oftmals zu Ungunsten der antragstellenden Geschwister ausgeübt wird.
Ein Verzicht auf das Erfordernis ausreichenden Wohnraums ist nach Ansicht des Auswärtigen Amtes weder im Rahmen des Ermessens noch durch die Annahme eines atypischen Falles gerechtfertigt, vgl. Runderlass des Auswärtigen Amtes vom 20.03.2017. Dies bestätigt auch die Rechtsprechung des für das Visumsverfahren allein zustängen VG Berlin (Urteil vom 30.01.2019 - 20 K 538.17 V - asyl.net: M27126 und Urteil vom 01.02.2019 - 15 K 936.17 V - asyl.net: M27094).
Ein Absehen vom Erfordernis eigenständiger Sicherung des Lebensunterhaltes sei darüber hinaus nur dann möglich, wenn ein atypischer Fall angenommen werden könne, wofür Aspekte wie die aktuelle Wohnsituation des Kindes (Unterkunft im Flüchtlingslager, bei Verwandten, im eigenen Wohnort etc.) oder die Betreuungssituation des Kindes nach Ausreise der Eltern (Zumutbarkeit, dass ein Elternteil vorerst zurück bleibt oder Betreuung durch andere Verwandte) durch die Auslandsvertretung zu würdigen seien.
Getragen wird das Vorgehen der Auslandsvertretungen auch von der gegenwärtigen Rechtsprechung, die dahingehend argumentiert, dass sich die Frage, ob vom Erfordernis der Lebensunterhaltssicherung abgesehen werden kann, neben der Situation im Herkunftsland u.a. nach dem Zweck der den Eltern erteilten Aufenthaltserlaubnis und ihrem weiteren, einen Kindernachzug vermittelnden (sicheren) Bleiberecht im Bundesgebiet richtet (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 21.12.2016 und 22.12.2016 a.a.O. mit weiteren Nachweisen). Ist dieses Bleiberecht – wegen zeitnahem Eintritt der Volljährigkeit des unbegleiteten minderjährigen Kindes, zu dem sie gemäß § 36 Abs. 1 AufenthG nachziehen- zeitlich eng begrenzt ist, erscheint es nach Ansicht der Rechtsprechung auch unter Berücksichtigung nationaler und unionrechtlicher Schutzgebote (insbesondere Art. 6 Abs. 1 GG, Art. 8 Abs. 1 EMRK und Art. 24 Abs. 2 und Abs. 3 GR-Charta) gerechtfertigt, eine Ausnahme vom Erfordernis der Lebensunterhaltssicherung abzulehnen. Dies gelte, sofern nicht die Würdigung der Umstände des Einzelfalls etwas anderes ergäbe, vgl. BVerwG, Urteil vom 26.08.2008 – 1 C 32/07, asylnet: M14389 und BVerwG, Urteil vom 13.06.2013 – 10 C 16/12.
Denn es sei zu berücksichtigen, dass das Nachzugsrecht der Eltern nur bis zum Eintritt der Volljährigkeit besteht und allein dem Schutz des unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings und seinem Interesse an der Familieneinheit mit seiner Familie, nicht jedoch eigenständigen Interessen der Eltern am Zusammenleben mit dem Kind diene. Eine solche Annahme sei durch das AufenthG bestärkt, welches den Eltern nach Erreichen der Volljährigkeit des Kindes kein eigenständiges Aufenthaltsrecht gewährt. Hinsichtlich der Betrachtung des Bleiberechts der Eltern sei zudem ein mögliches zukünftiges Asylverfahren für das Visumsverfahren des Kindes unbeachtlich (OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 22.12.2016, OVG 3 S 106.16, Rn. 7,a.a.O. - mit weiteren Nachweisen).
Dem könnte entgegnet werden, dass Art. 8 EMRK Kindern und ihren Eltern ein Sorge- und Umgangsrecht gewährleistet. Auch wenn Art. 8 EMRK nicht der Gewährleistung eines Rechts auf Einreise in einen bestimmten Staat dient, besteht, nach Ansicht der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), im Rahmen des Familiennachzugs zu Flüchtlingen die Pflicht, den Fluchthintergrund und die durch diesen bedingte Störung des Familienlebens hinreichend zu berücksichtigen, vgl. EGMR, Urteil vom 10.07.2014, 2260/10, Tanda – Muzinga, Rn. 73. Die Zusammenführung der Angehörigen im Aufnahmestaat könne dabei unter Umständen das einzige Mittel darstellen, dass Familienleben wieder aufzunehmen.
Art. 7 der Grundrechtecharta (GR-Ch) verbirgt zudem das Recht eines jeden auf Achtung des Privat- und Familienlebens. Darüber hinaus legt Art. 24 Abs. 2 GR-Ch die Verpflichtung fest, dass bei allen Maßnahmen von öffentlichen und privaten Einrichtungen das Wohl des Kindes als vorrangige Erwägung zu berücksichtigen ist. Gerade mit Blick auf die Zumutbarkeit, dass ein Elternteil vorerst zurück bleibt, sei darauf hingewiesen, dass Art. 24 Abs. 3 GR-Ch jedem Kind einen Anspruch auf regelmäßige Beziehungen und direkte Kontakte zu beiden Eltern gewährt. Diese Bestimmungen müssen nach Ansicht des EUGH von den Mitgliedstaaten bei der Auslegung von Art. 7 Abs. 1 Bst. c) FamZ-RL (Möglichkeit der Einschränkung des Familiennachzugs wegen mangelnder Lebensunterhaltssicherung) berücksichtigt werden und entsprechende Anträge unter Berücksichtigung des Kindeswohls und dem Bestreben, das Familienleben zu fördern, geprüft werden (vgl. EUGH, Urteil vom 06.12.2012, C-356/11 und C-357/11, Rn.79, a.a.O.).
Vor diesem Hintergrund hält auch UNHCR eine zeitgleiche Visaerteilung für minderjährige Geschwister, welche mit den Eltern im Familienverbund leben und den gemeinsamen Nachzug zum schutzberechtigen Geschwisterkind nach Deutschland begehren, unter Verzicht auf das Erfordernis von Lebensunterhaltssicherung und ausreichendem Wohnraum für geboten, vgl. UNHCR, „Familienzusammenführung zu Personen mit internationalem Schutz - Rechtliche Probleme und deren praktische Auswirkungen, Asylmagazin 4/2017, S. 132-137.
Ob die zunehmend restriktive Handhabung der Visaerteilung in Fällen des Geschwisternachzugs gerade in Fällen, in denen jüngere Geschwisterkinder den Nachzug begehren, aufrechterhalten wird, bleibt abzuwarten.
Hinweis für die Praxis! Sollte in der Beratungssituation sichtbar werden, dass die beteiligten Behörden entsprechende Nachweise zur Lebensunterhaltssicherung und ausreichenden Wohnraums fordern, sollte mit den Beteiligten auch alternativ die Möglichkeit eines schrittweisen Nachzugs der Angehörigen durchdacht werden. Dies bedeutet, das zunächst nur ein Elternteil zur unbegleiteten, minderjährigen Person nach Deutschland reist, hier im Rahmen eines eigenen Asylverfahrens ein den Nachzug ermöglichendes Aufenthaltsrecht erwirbt und den im Ausland verbliebenen Angehörigen, so die Möglichkeit einer Einreise im Wege des vereinfachten Familiennachzugs eröffnet.
Zur Erläuterung dieses Vorgehens empfiehlt sich die folgende Arbeitshilfe des Flüchtlingsrat Baden-Württemberg: Hinweise zum Familienasyl und "Kaskadennachzug" (Stand:28.02.2018).
Beachtet werden sollte, dass soweit der Nachzug eines oder beider Elterteile zum als Flüchtling anerkannten Kind - unter Anwendung der Auslegungsvorgaben des EuGH mit Urteil vom 12.04.2018 - erst nach Eintritt der Volljährigkeit des Kindes erfolgt, die Möglichkeit entfällt, durch einen unverzüglichen Antrag auf "Familienasyl" ebenfalls den (abgeleiteten) Flüchtlingsstatus zu erhalten. Da ein solcher Antrag gemäß § 26 AsylG nur so lange möglich ist, wie das hier lebende, schutzberechtigte Kind minderjährig ist. Somit kommt ein hierauf aufbauender (Geschwister-) Kindernachzug nicht in Betracht, vgl. Fachinformation des DRK-Suchdienstes zum Familiennachzug von und zu Flüchtlingen vom April 2019 (S.7) mit weiteren Praxishinweisen zum Geschwisternachzug.
Abschließend sei darauf hingewiesen, dass soweit ein Geschwisternachzug nach Maßgabe des § 36 Abs. 2 AufenthG in Frage steht, das Vorliegen einer außergewöhnlichen Härte aus der Trennung des in Deutschland aufhältigen Kindes zu dem nachzugswilligen Geschwisterkind folgen muss. Die Tatsache, dass der zeitgleich beantragte Elternnachzug zu einer Trennung von den Eltern und dem alleinigen Verbleib des Geschwisterkindes im Ausland führt, begründet nach Ansicht des Auswärtigen Amtes keine außergewöhnliche Härte zwischen den Geschwistern (Runderlass des Auswärtigen Amtes vom 20.03.2017).
Im Rahmen der Debatte um die zeitweise Aussetzung des Familiennachzugs für subsidiär schutzberechtigte Personen erlangte § 22 Satz 1 AufenthG besondere Aufmerksamkeit. Denn die Bundesregierung betonte wiederholt, dass die Möglichkeit Personen aus völkerrechtlichen oder dringenden humanitären Gründen aus dem Ausland aufzunehmen, wie es § 22 Satz 1 AufenthG festschreibt, auch für diesen Personenkreis trotz der Aussetzung Anwendung finden sollte. Hieran hält der Gesetzgeber auch nach der Neuregelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigen fest, vgl. § 36 a Abs. 1 Satz 4 AufenthG, der die Anwendung des § 22 AufenthG ausdrücklich unberührt lässt.
Zu beachten ist, dass § 22 Satz 1 AufenthG nur dann Anwendung finden kann, wenn sich die betroffene Person zum Zeitpunkt der Erstentscheidung über ihr Aufenthaltsrecht im Ausland befindet und ihr kein anderes Einreiserecht gebührt (Nr.22.1.1.2.AVwV-AufenthG). Die Regelung gewährt weder einen Rechtsanspruch, noch kann sie als Auffangregelung oder allgemeine Härtefallregelung unter den bestehenden Vorschriften des AufenthG verstanden werden, vgl. Nr. 22.1.4. AVwV-AufenthG.
Unter Berücksichtigung der Verwaltungspraxis des Auswärtigen Amtes ist vorallem die zweite Alternative der dringenden humanitären Gründe für die Beratungssituation relevant. Hierunter ist eine besonders gelagerte Notsituation zu verstehen. Insbesondere muss sich der Schutzsuchende in einer solchen Sondersituation befinden, die ein Eingreifen zwingend erfordert und es rechtfertigt, ihn im Gegensatz zu anderen Ausländern in vergleichbarer Lage aufzunehmen. Die Aufnahme muss im konkreten Einzelfall ein Gebot der Menschlichkeit sein, vgl. Nr. 22.1.1.2.AVwV- AufenthG.
Zur Beurteilung des Einzelfalls wird eine Abwägung nachfolgender Gesichtspunkte vorgenommen, die für und gegen eine Aufnahme sprechen:
Wie der Wortlaut „dringend“ bereits zu erkennen gibt, muss ein Eingreifen im konkreten Einzelfall zwingend erforderlich sein. Dabei weisen das Auswärtige Amt und die dazugehörigen Auslandsvertretungen ausdrücklich darauf hin, dass es sich hierbei um Fälle humanitärer Notlagen handeln muss, die sich von den Lebensumständen im Aufenthaltsland deutlich abheben, aus der eine Gefahr für Leib und Leben des Betroffenen folgt. Dabei müsse sich die konkrete Situation der aufzunehmenden Person als „singuläres Einzelschicksal“ darstellen, das sich von vergleichbaren Situationen durch Intensität und den Grad der Gefährdung unterscheidet.
Weiter müssen die allgemeinen Voraussetzungen des §§ 5 und 11 AufenthG erfüllt sein, wobei ein Absehen im Wege des Ermessens möglich ist.
Die besondere Gefährdungssituation ist seitens der um Aufnahme ersuchenden Person unter Beifügung geeigneter Nachweise (z.B. Atteste) ausführlich darzulegen und an das Auswärtige Amt für eine Vorbewertung unter 508-R1(at)auswaertiges-amt.de zu übersenden. Ebenso sollte der BAMF Bescheid des in Deutschland schutzberechtigten Familienmitglieds eingereicht werden. Soweit entsprechende Anfragen an die Auslandsvertretung gerichtet werden, sollen diese ebenfalls – nach Weisung des Auswärtigen Amtes vom 20.03.2017 - dem zuständigen Referat 508 zugeleitet werden. Kommt das Auswärtige Amt aufgrund des dargelegten Sachverhalts zu der Einschätzung, dass eine besondere Gefährdungssituation im Einzelfall glaubhaft gemacht werden konnte, initiiert es eine persönliche Anhörung in der zuständigen Auslandsvertretung und setzt die um Aufnahme ersuchende Person per Email darüber in Kenntnis. Eine konkrete Terminvergabe erfolgt in der Regel zeitnah durch die zuständige Auslandsvertretung. Auf Grundlage der durchgeführten Anhörung trifft die Auslandsvertretung sodann nach interner Beteiligung der zuständigen Ausländerbehörde eine abschließende Entscheidung über das Ersuchen um humanitäre Aufnahme. Die Initiierung des Visumsverfahrens soll erst nach positivem Vorverfahren durch eine individuelle Terminvergabe erfolgen, wofür eine Terminbuchung seitens der um Aufnahme ersuchenden Person nicht erforderlich ist, vgl. BT-Drucks. 18/11473, S.20.
Eine detaillierte Darstellung zum Ablauf des Verfahrens, den verbleibenden Möglichkeiten bei Versagung der Aufnahme, sowie einer Schilderung erster Praxiserfahrungen bietet die Arbeitshilfe: "Aufnahme aus dem Ausland" beim Familiennachzug - Anwendung des § 22 Satz 1 AufenthG beim Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten, verfasst vom BBZ - Beratungs- und Betreuungszentrum für junge Flüchtlinge und MigratInnen in Zusammenarbeit mit dem Informationsverbund Asyl & Migration (Stand Juni 2017). Die Arbeitshilfe liefert zudem ein Musterschreiben, welches mögliche Argumente für ein Aufnahmeersuchen nach § 22 Satz 1 AufenthG beinhaltet.
Im Rahmen einer öffentlichen Anhörung im Bundestag vom 20.03.2017 zur Aussetzung des Familiennachzugs wurden seitens des Auswärtigen Amtes beispielhaft der Fall einer herzkranken Minderjährigen aus Aleppo, deren Eltern der Nachzug ermöglicht werden sollte, sowie einer Frau aus Damaskus, deren Mann auf eine Nierensprende angewiesen sei, benannt.
Mit Urteil vom 07.11.2017 hatte das Verwaltungsgericht Berlin erstmals die Bundesregierung Deutschland dazu verflichtet, einer syrischen Familie ein Visum zum Familiennachzug auf Grundlage des § 22 Satz 1 AufenthG zu erteilen. Geklagt hatte eine Familie (Eltern und Geschwister) aus Damaskus, die den Nachzug zu ihrem schwer traumatisierten, 16-jährigen Sohn begehrte, der in Deutschland lediglich subsidiären Schutz erhalten hatte, VG Berlin, Urteil vom 07.11.2017 - 36 K 92.17 V, asyl.net: M25744.
Bezugnehmend auf vorbezeichnetes Urteil des VG Berlin zur Anwendung von § 22 Satz 1 AufenthG nach den Vorgaben der UN-Kinderrechtskonvention: Hendrik Cremer, "Kein Recht auf Familie für subsidiär Schutzberechtigte?", Asylmagazin 03/2018, S. 65-70.
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