Je nachdem in welcher verwandtschaftlichen Beziehung das den Nachzug begehrende Familienmitglied zur in Deutschland aufenthalts- und schutzberechtigten Person steht, gelten neben den allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen besondere Erfordernisse, die für die Erteilung eines Visums erfüllt sein müssen. Diese sollen im Folgenden anhand der jeweiligen Konstellation erläutert werden.
Wie bereits betont, muss die in Deutschland lebende Person über eine Aufenthaltserlaubnis (hierzu vgl. Schutzberechtigte Person in Deutschland) verfügen, vgl. § 29 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG.
Ein Nachzugsanspruch setzt zudem voraus, dass die Ehe am Ort der Eheschließung rechtsgültig geschlossen worden ist und die freie Absicht besteht, diese eheliche Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet herzustellen und zu wahren, vgl. § 27 Abs. 1 AufenthG.
Personen in einer lebenspartnerschaftlichen Gemeinschaft, worunter das AufenthG Gemeinschaften versteht, die von zwei gleichgeschlechtlichen Partnern oder Partnerinnen im Sinne des Lebenspartnerschaftsgesetzes (LPartG) eingegangen werden, sind Eheleuten gemäß § 27 Abs. 2 AufenthG hinsichtlich ihres Nachzugsanspruchs gleichgestellt. Soweit die Lebenspartnerschaft nach ausländischem Recht geschlossen wurde, muss auch hier der Nachweis erbracht werden, dass sie staatlich anerkannt wurde und muss sie in ihrer Ausgestaltung der deutschen Lebenspartnerschaft entsprechen, vgl. Nr. 27.2.1. AVwV-AufenthG.
Eine religiös geschlossene Ehe muss nach dem Recht des Heimatlandes staatlich anerkannt worden sein, um einen Nachzugsanspruch zu begründen. Für die Praxis bedeutet dies, dass im Rahmen des Visumverfahrens nicht nur die Vorlage des Nachweises der religiösen Eheschließung genügt, sondern im Regelfall der Nachweis über die staatliche Anerkennung der Ehe erbracht werden muss.
Soweit von den betroffenen Eheleuten verlangt wird, dass der Nachzug der Herstellung und Wahrung der ehelichen Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet dient, sollen insoweit Missbrauchsfälle der Eheschließung ausgeschlossen werden. So kann ein Visum zum Ehegattennachzug abgelehnt werden, wenn die Ehe nachweislich nur zu dem Zweck eingegangen wurde, um der nachziehenden Person ein Aufenthaltsrecht im Bundesgebiet zu vermitteln („Scheinehe“), vgl. § 27 Abs. 1 Bst. a Nr. 1 AufenthG oder tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen, dass eine Person zur Eheschließung genötigt worden ist („Zwangsehe“), vgl. § 27 Abs. 1 Bst. a Nr. 2 AufenthG. Liegen der zuständigen Auslandsvertretung im Einzelfall Hinweise vor, die eine der vorbezeichneten Annahmen tragen, werden die Eheleute in der Regel einbestellt und unabhängig voneinander (die nachziehende Person durch die Auslandsvertretung, die in Deutschland aufenthaltsberechtigte Person durch die zuständige Ausländerbehörde) befragt. Darüber hinaus verlangen die beteiligten Behörden in der Regel weitere Nachweise zum Beleg der Ernsthaftigkeit der Verbindung (z.B. Nachweise regelmäßiger Kommunikation via Telefon, Email oder Messenger oder auch gemeinsame Fotos etc.). Bestätigt sich der Verdacht der Behörden, wird das Visum zum Zweck des Ehegattennachzugs versagt.
Minderjährigen-Ehe
Weiterhin muss die nachziehende Person das 18. Lebensjahr vollendet haben, vgl. § 30 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG.
Ist eine Eheschließung nach dem jeweiligen Heimatrecht auch vor Erreichen der Volljährigkeit möglich, hatten die deutschen Behörden diese Eheschließung bis Mitte 2017 in der Regel anzuerkennen (vgl. OLG Bamberg, Beschluss vom 12.05.2016 - 2 UF 58/16 (Beschluss nach § 69 FamFG) – asyl.net: M23863). Ein Visum zum Ehegattennachzug wurde mit Blick auf die Regelung des § 30 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG in diesen Fallen jedoch häufig erst mit Erreichen der Volljährigkeit erteilt.
Mit Inkraftreten des "Gesetzes zur Bekämpfung von Kinderehen" am 22. Juli 2017 haben die bis dahin geltenden Regelungen gravierende Änderungen mit weitreichenden Folgen für die Anerkennung im Ausland geschlossener Ehen erfahren. Dabei sind seit diesem Stichtag folgende Neuregelungen von besonderer Bedeutung für den Familiennachzug:
Im Ausland wirksam geschlossene Ehen, bei denen einer der Ehepartner zum Zeitpunkt der Eheschließung das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet hatte, sind gemäß Art. 13 Abs. 3 Nr. 1 EGBGB nach deutschem Recht unwirksam. Der Ehegattennachzug ist insoweit ausgeschlossen.
Dies gilt nicht, soweit:
Im Ausland wirksam geschlossene Ehen bei denen einer der Ehepartner zum Zeitpunkt der Eheschließung zwar das 16., aber nicht das 18. Lebensjahr vollendet hatte, sind gemäß Art. 13 Abs. 3 Nr. 2 EGBGB nach deutschem Recht aufhebbar.
Dies gilt nicht, soweit:
Unter dem Begriff der "schweren Härte" sind ausweislich der Gesetzesbegründung vor allem gravierende Einzelfälle von schweren und lebensbedrohlichen Erkrankungen, sowie eine krankheitsbedingte Suizidabsicht des Minderjährigen zu verstehen (vgl. BT-Drs. 18/12086, S.17), wobei von Seiten der Bundesregierung darauf hingewiesen wurde, dass dies keine abschließende Aufzählung der Härtefälle sei (vgl. BT-Drs. 18/12377, S. 11).
Gemäß § 98 Abs. 2 FamFG ist für die Aufhebung einer Ehe das Familiengericht zuständig. Dies gilt jedoch nur, soweit sich der Ehepartner, der bei Eheschließung 16 oder 17 Jahre alt war, im Bundesgebiet aufhält. Bis zur Aufhebung bleibt die Ehe wirksam.
Ist die im Ausland geschlossene Ehe nach den vorbezeichneten Grundsätzen wirksam, kann für den Ehegattennachzug eine Ausnahme vom Erfordernis der Volljährigkeit zur Vermeidung einer besonderen Härte gemacht werden, vgl. § 30 Abs. 2 Satz 1 AufenthG. In solchen Fällen muss die Erteilung des Visums bzw. der darauffolgenden Aufenthaltserlaubnis notwendiges Mittel zur Vermeidung der besonderen Härte sein (Bsp.: unzumutbares Abwarten bei Schwangerschaft und baldiges Erreichen der Volljährigkeit). Beachtet werden sollte jedoch, dass die Einreise ins Bundesgebiet vor Erreichen der Volljährigkeit unter Umständen die Aufhebung der Ehe ermöglicht (vgl. § 98 Abs. 2 FamFG), soweit nicht der Ausschlussgrund der schweren Härte gemäß § 1315 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BGB zum Tragen kommt.
Mit Beschluss vom 14.11.2018 legte der Bundesgerichtshof das Gesetz dem Bundesverfassungsgericht mit der Frage zur Entscheidung vor, ob die generelle Unwirksamkeit ausländischer Ehen mit unter 16-Jährigen mit Art. 1, 2 Abs. 1, 3 Abs. 1 und 6 Abs. 1 GG vereinbar ist (BGH, Beschluss vom 14.11.2018 - XII ZB 292/16 - asyl.net: M26892). Daraufhin hat das BVerfG mit Beschluss vom 01.02.2023 zwar die Verfassungswidrigkeit der Regelung festgestellt, weil es an Regelungen über die Folgen der Unwirksamkeit, etwa über Unterhaltsansprüche, und über eine Möglichkeit, die nach ausländischem Recht gültige Ehe nach Erreichen der Volljährigkeit auch nach deutschem Recht als wirksame Ehe führen zu können, fehle (BVerfG, Beschluss vom 01.02.2023, 1 BvL 7/18, siehe PM des BVerfG vom 29.03.2023). Der Beschluss hat jedoch keine unmittelbaren Auswirkungen auf die Fallkonstellationen mit Bezug zum Familiennachzug, weil das Gesetz vorerst in Kraft bleibt und damit die Ehen, bei denen eine Person unter 16 war, weiterhin (nach deutschem Recht) unwirksam. Eine Übergangsregelung wurde nur für unterhaltsrechtliche Fragen beschlossen (siehe ebd.). In betreffenden Fallkonstellationen ist eine anwaltliche Beratung/Begleitung zu empfehlen.
Sprachkenntnisse
Das Erfordernis des Nachweises einfacher Deutschkenntnisse (A1-Niveau, vgl. § 30 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AufenthG i.V.m. § 2 Abs. 9 AufenthG) gilt für den Nachzug zu einem Schutzberechtigten mit einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 23 Abs. 4 (Resettlement-Flüchtlinge), § 25 Abs. 1 (Asylberechtigte) und § 25 Abs. 2 Alt. 1 (anerkannte Flüchtlinge) nicht, soweit die Ehe bzw. Lebenspartnerschaft bereits bestand als die schutzberechtigte Person ihren Lebensmittelpunkt ins Bundesgebiet verlagerte, vgl. § 30 Abs. 1. S. 3 Nr. 1 AufenthG.
Sollte die Ehe bzw. Lebenspartnerschaft erst nach Einreise ins Bundesgebiet begründet worden sein, kommt eine Ausnahme in Betracht, soweit die nachziehende Person aufgrund körperlicher, geistiger oder seelischer Krankheit oder Behinderung nicht in der Lage ist, die notwendigen Sprachkenntnisse zu erwerben, vgl. § 30 Abs. 1 S. 3 Nr. 2 AufenthG. Für weiterführende Informationen vgl. Visumhandbuch, Abschnitt "Nachweis von Sprachkenntnissen im Visumverfahren".
Zudem können es besondere Umstände des Einzelfallsunmöglich oder unzumutbar machen, vor der Einreise die erforderlichen Sprachkenntnisse zu erwerben (z.B. fehlende Zugangsmöglichkeit, Alter, Bildungsniveau oder finanzielle Lage der nachzugswilligen Person) und erlauben ein Absehen von dieser Voraussetzung, vgl. § 30 Abs. 1. Satz 3 Nr. 6 AufenthG. Mit einer Aufzählung von Einzelfallumständen vertiefend: EUGH, Urteil vom 09.07.2015 – C-153/14 - K und A gegen Niederlande, asyl.net: M23038, Asylmagazin 9/2015, S. 300 ff.
Zur möglichen Unvereinbarkeit einer solchen Regelung, die an den Zeitpunkt der Eheschließung anknüpft, mit dem Recht auf Achtung des Familienlebens (Art. 8 EMRK) und dem Diskriminierungsverbot (Art. 14 EMRK), vgl. auch Urteil des EGMR vom 06.11.2012 -22431/09 - Hode & Abdi v. Großbritannien.
Sicherung des Lebensunterhaltes und ausreichender Wohnraum
Vom Erfordernis der Sicherung des Lebensunterhaltes und dem Nachweis ausreichenden Wohnraums ist in den Fällen des § 29 Abs. 2 S. 2 AufenthG abzusehen, vgl. Ausführungen unter Vereinfachter Familiennachzug zu Schutzberechtigten. Sind dessen Voraussetzungen nicht erfüllt, gilt, dass der Ehegattennachzug in der Regel nur dann erlaubt wird, wenn der Lebensunterhalt gesichert ist und ausreichender Wohnraum nachgewiesen werden kann, vgl. die Ausführungen unter Regelerteilungsvoraussetzungen.
Mehrehe
Im Zusammenhang mit dem Ehegattennachzug erlangt zudem die Thematik der Mehrehe besondere Bedeutung für die Beratungspraxis.
Der Fall des Ehegattennachzugs in Mehrehe ist in § 30 Abs. 4 AufenthG geregelt. Dabei sollen die Behörden zunächst die zivilrechtliche Vorfrage prüfen, inwieweit nach dem auf beide Eheleute jeweils anwendbaren Personalstatut (Art. 3 Abs. 2, 5 Abs. 2, 13, 14, 17 EGBGB) eine wirksame Eheschließung stattgefunden hat. Insbesondere in muslimischen Rechtsordnungen unterliegt die wirksame Eingehung einer Mehrehe häufig besonderen verfahrens- und materiellrechtlichen Voraussetzungen, vgl. Visumshandbuch, Abschnitt "Ehegatten- bzw. Partnernachzug", 2.3. Mehrehen.
Liegt zwischen den Ehegatten eine wirksame (Mehr-) Eheschließung vor, besteht nach § 30 Abs. 4 AufenthG nur insoweit ein Nachzugsrecht, als in Deutschland die eheliche Lebensgemeinschaft nicht schon mit einem anderen Ehegatten geführt wird, denn nach einhelliger Auffassung unterliegt die Mehrehe nicht dem Schutz von Art. 6 Abs. 1 GG, vgl. OVG Niedersachen, Urteil vom 29.11.2005 – 10 LB 84/05. Daher schließt § 30 Abs. 4 AufenthG, in Umsetzung der Vorgaben des Art. 4 Abs. 4 FamZ-RL, den Nachzug zweiter oder dritter Ehegatten aus.
Offen bleibt jedoch die Möglichkeit, dass dem weiteren Ehepartner oder -partnerin bei einer nach dem Heimatrecht wirksam geschlossenen Mehrehe der Familiennachzug im Ermessenswege gemäß der Härtefallregelung des § 36 Abs. 2 AufenthG gestattet werden kann, vgl. VG Berlin, Gerichtsbescheid vom 08.05.2015, 28 K 93.14 V (bezüglich der gleichzeitigen Antragstellung des Familiennachzugs zweier (Mehr-)Ehegatten) sowie Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestags, Sachstand: Zum Ehegattennachzug bei Mehrehen, WD 3 - 3000 - 294/18 (2018), S. 4. Ein Nachzug müsste in diesem Fall der Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte dienen und ist grundsätzlich vom Erfordernis der eigenständigen Lebensunterhaltssicherung und dem Nachweis ausreichenden Wohnraums abhängig, vgl. vertiefend Nachzug sonstiger Familienangehöriger.
Für ein minderjähriges und unverheiratetes Kind besteht ein Nachzugsanspruch, wenn beide Eltern oder der allein sorgeberechtigte Elternteil eine Aufenthaltserlaubnis (hierzu Schutzberechtigte Person in Deutschland) besitzen, vgl. § 32 Abs. 1 AufenthG. Wenn nicht die gesetzlichen Kriterien für eine Ausnahme erfüllt sind, gelten grundsätzlich die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen der §§ 5 und 29 AufenthG (siehe hierzu Vereinfachter Nachzug zu Schutzberechtigten).
Als Kind im Sinne des § 32 AufenthG gilt nicht nur das leibliche Kind, sondern auch das Adoptivkind, vgl. insoweit Art. 4 Abs. 1 Bst. b und Bst. c FamZ-RL. Zu den Anforderungen an die Adoption siehe Ausführungen zu Nachzug der Eltern zu unbegleiteten Minderjährigen.
Pflegekinder haben kein Nachzugsrecht nach § 32 AufenthG. Denkbar ist in diesen Fällen ein Nachzug nach Maßgabe der Härtefallregelung des § 36 Abs. 2 AufenthG.
Ein Nachzugsrecht von Stiefkindern ist umstritten. Während nach dem Wortlaut des Art. 4 Abs. 1 Satz 1 Bst. d FamZ-RL ein Anspruch auf Familienzusammenführung mit einem Stiefelternteil besteht, soll sich das Nachzugsrecht des Stiefkindes an dem des mitziehenden leiblichen Elternteils orientieren. Damit wird es für den Nachzug des Stiefkindes maßgeblich auf die Sicherung des Lebensunterhaltes entsprechend der allgemeinen Voraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG ankommen, da der mitziehende leibliche Elternteil (der selbst im Wege des Ehegattennachzugs einreist) nicht die Privilegierung des § 29 Abs. 2 Satz 2 AufenthG vermitteln kann. Ein Nachzug zum Stiefelternteil soll nur zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte entsprechend § 36 Abs. 2 AufenthG möglich sein, vgl. Nr. 27.1.5. AVwV-AufenthG.
Voraussetzung für den Anspruch auf Erteilung eines Visums zum Kindernachzug ist zudem, dass der Elternteil zu dem der Nachzug begehrt wird, im Besitz des (ggf. alleinigen) Sorgerechts ist. Das Sorgerecht richtet sich in der Regel nach dem Recht des Staates in dem das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat (Art. 16 Abs. 1 KSÜ). Bei gemeinsamen Sorgerecht soll das Visum zum Nachzug zu nur einem sorgeberechtigten Elternteil erteilt werden, wenn der andere Elternteil sein Einverständnis mit dem Aufenthalt des Kindes im Bundesgebiet erklärt hat oder eine entsprechende rechtsverbindliche Entscheidung einer zuständigen Stelle (also z.B. eines Gerichts) vorliegt, vgl. § 32 Abs. 3 AufenthG.
Hinweis! Auch in den Fällen, in denen der in Deutschland lebende sorgeberechtigte Elternteil nicht den Nachweis führen kann, dass er über das alleinige Sorgerecht oder das erforderliche Einverständnis verfügt (z.B. durch Urteil eines Gerichts, vgl. AG Köpenick, Beschluss vom 23.09.2016 - 23 F 68/16 – asyl.net: M24384), weil der andere Elternteil verstorben oder nicht auffindbar ist, verlangen die zuständigen Auslandsvertretungen in der Regel eine Urkunde zum Verbleib des Elternteils (z.B. eine Sterbeurkunde). Im Einzelfall sollte mit der zuständigen Auslandsvertretung geklärt werden, wie ein solcher Nachweis im konkreten Einzelfall erbracht werden kann, vgl. auch Visumhandbuch, Abschnitt "Kindernachzug".
Ein Nachzugsanspruch besteht nach Maßgabe des § 32 Abs. 1 AufenthG nur solang das den Nachzug begehrende, unverheiratete Kind „minderjährig“ ist. Damit kommt der Frage eine erhebliche Bedeutung zu, auf welchen Zeitpunkt für die Bestimmung der Minderjährigkeit abzustellen ist.
Während die deutsche Rechtspraxis bisher auf den Zeitpunkt des Antrags auf Familiennachzug durch das den Nachzug begehrende Kind bei der zuständigen deutschen Auslandsvertretung abstellte, trat der EuGH mit Urteil vom 01.08.2022 dieser Rechtsauffassung für den Kindernachzug zu Eltern mit Flüchtlingsanerkennung entgegen (Urteil vom 01.08.2022 - C-279/20 Deutschland gg. XC - asyl.net: M30815, sowie asyl.net: Meldung vom 01.08.2022). Denn nach Ansicht des Gerichtshof sei Art. 4 Abs. 1 Bst. c FamZ-RL dahingehend auszulegen, dass ein Kind des zusammenführenden Elternteils, der als Flüchtling anerkannt worden ist, auch dann als minderjährig im Sinne der Vorschrift zu behandeln sei, wenn es zum Zeitpunkt der Asylantragstellung des zusammenführenden Elternteils minderjährig war, aber vor dessen Anerkennung als Flüchtling und Stellung des Nachzugsantrags volljährig geworden ist. In einem solchen Fall kann die Familienzusammenführung des Kindes mit dem in Deutschland lebenden Elternteil jedoch nur dann Erfolg haben, wenn der Nachzugsantrag des Kindes innerhalb einer Frist von drei Monaten ab Anerkennung des zusammenführenden Elternteils als Flüchtling bei der zuständigen Auslandsvertretung gestellt wird.
Zur Begründung dieser Rechtsaufassung führt der EuGH im Wesentlichen aus, dass Art. 4 Abs. 1 Bst. c FamZ-RL zwar keine Vorgaben zum maßgeblichen Zeitpunkt für die Bestimmung der Minderjährigkeit im Nachzugsverfahren benenne, den Mitgliedstaaten dahingehend jedoch auch kein eigenes Regelungsrecht zugewiesen sei. Vor diesem Hintergrund würden die Anforderungen der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts sowie der Gleichbehandlungsgrundsatz eine autonome und einheitliche Auslegung der Vorschrift erfordern. Zudem dürfe das Recht auf Familienzusammenführung, wenn es um Minderjährige geht, nicht durch den Zeitaufwand der Entscheidungen über Anträge auf internationalen Schutz oder auf Familienzusammenführung ausgehöhlt werden. Ein Abstellen auf den Zeitpunkt der Asylentscheidung oder der Entscheidung über den Visaantrag des nachziehenden Kindes würde den Grundsätzen der Gleichbehandlung sowie der Rechtssicherheit zuwider laufen, da eine solche Auslegung keine gleiche und vorhersehbare Behandlung aller antragstellenden Personen, die sich zeitlich in der gleichen Situation befinden, gewährleisten. Vielmehr würde der Erfolg des Nachzugsantrags dann von Umständen abhängen, die in der Sphäre der nationalen Behörden oder Gerichte liegen, insbesondere von der mehr oder wenigen zügigen Bearbeitung des Antrags auf internationalen Schutz oder der mehr oder weniger zügigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf gegen die Ablehnung eines solchen Antrags, und damit nicht von Umständen, die in der Sphäre der antragstellenden Person lägen (vgl. Urteil vom 12.04.2018, C-550/16, A und S gegen die Niederlande, Rn. 56 und 60, asylnet: M26143, sowie asylnet: Meldung vom 16.04.2018.
Das Auswärtige Amt hat mittlerweile Weisungen erlassen, die die deutschen Auslandsvertretungen dazu auffordern, die Vorgaben des EuGH wie folgt umzusetzen (vgl. Auswärtiges Amt, Erlass/Behördliche Mitteilung vom 09.09.2022 - 508-543.53/2 - asyl.net: M31184; Auswärtiges Amt, Erlass/Behördliche Mitteilung vom 28.10.2022 - 508-543.53/2; Bundesministerium des Innern, Erlass/Behördliche Mitteilung vom 07.11.2022 - M3-21002/1#73 - asyl.net: M31185; sowie asyl.net: Meldung vom 22.12.2022):
Nach der EuGH-Resprechung und den bisherigen Weisungen ergeben sich aktuell folgende Hinweise für die Beratungspraxis:
Vertiefende Hinweise zum Vorgehen für die Beratungspraxis formulieren die Fachinformationen des DRK-Suchdienstes zum Familiennachzug von und zu Flüchtlingen vom 05. September 2022 sowie die Fortbildungsunterlagen vom 28.09.2022 zur aktuellen Rechtsprechung zum Familiennachzug zu Schutzberechtigten.
Da die FamZ-RL keine Anwendung auf subsidiär Schutzberechtigte findet, kommt eine Übertragung der vom EuGH entwickelten Grundsätze auf diesen Personenkreis bislang nicht in Betracht (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.12.2022 - 1 C 8.21). Gleichsam findet die vorbezeichnete Rechtsprechung keine Anwendung auf sogenannte „Altfälle“, da die Änderung der (wenn auch höchstrichterlichen) Rechtsprechung nach herrschender Meinung keine Änderung der Sach- und Rechtslage im Sinne des § 51 VwVfG darstellt und ein Wiederaufgreifen eines bestandkräftigen Verfahrens damit verwehrt bleibt.
Der Antrag auf Familienzusammenführung sollte zudem hinreichende Ausführungen zum Bestehen einer tatsächlichen familiären Bindung zwischen dem zusammenführenden Elternteil und dem nachzugswilligen Kind enthalten. Dies umfasst Darlegungen zum Familienleben vor und dem gelebten Kontakt der Betroffenen während der Trennung, aber auch Überlegungen zur Gestaltung des künftigen Familienlebens in Deutschland. Denn mit vorbezeichnetem Urteil vom 01.08.2022 entschied der EuGH, dass die Annahme einer tatsächlichen familiären Bindung nicht allein durch das Bestehen des rein rechtlichen Eltern-Kind-Verhältnis getragen werden könne. Eine Ablehnung des Nachzugantrages könne wiederum auch nicht allein darauf gestützt werden, dass die Familie während der Zeit ihrer Trennung, die auf eine Sondersituation des zusammenführenden Elternteils als Flüchtling zurückzuführen ist, kein echtes Familienleben geführt habe und damit keine tatsächliche familiäre Bindung (im Sinne des Art. 16 Abs. 1 Bst. b FamZ-RL) bestehe. Es gehe auch die Annahme fehl, dass jegliche familiäre Bindung mit Eintritt der Volljährigkeit wegfalle. Vielmehr bedürfe es hierfür der Feststellung, dass die familiäre Bindung wirklich gegeben ist oder der Wille besteht, eine solche Bindung herzustellen oder aufrechtzuerhalten. Nach Ansicht des EuGH ist es in diesem Zusammenhang nicht erforderlich, dass sich der zusammenführende Elternteil und sein Kind gegenseitig finanziell unterstützen. Besteht demgegenüber unter den Betroffenen die Absicht einander gelegentlich zu besuchen, sofern dies möglich ist, und regelmäßigen Kontakt zu pflegen, unter Berücksichtigung insbesondere der ihre Situation kennzeichnenden tatsächlichen Umstände, zu denen das Alter des Kindes gehört, kann dies die Annahme rechtfertigen, dass sie persönliche und emotionale Beziehungen wieder aufbauen, und als Beleg für das Bestehen einer tatsächlichen familiären Beziehung genügen.
Deutschkenntnisse oder eine positive Integrationsprognose des nachzugswilligen Kindes werden nicht verlangt, soweit der Nachzug zu einem Elternteil erfolgt, der eine Aufenthaltserlaubnis als Asylberechtigter, anerkannter Flüchtling oder subsidiär Schutzberechtigter besitzt, vgl. § 32 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 AufenthG. Beim Nachzug von 16- oder 17-jährigen Kindern zu Personen mit anderen Aufenthaltstiteln (z.B. Abschiebungsverbot) gelten hingegen deutlich höhere Anforderungen, sofern das Kind nicht in zeitlichem Zusammenhang mit seinen Eltern oder dem allein personensorgeberechtigten Elternteil seinen Lebensmittelpunkt nach Deutschland verlegt. 16- und 17-jährigen Kindern wird in diesen Fällen ein Nachzug nur erlaubt, wenn sie bereits die deutsche Sprache beherrschen (C1-Niveau) oder gewährleistet erscheint, dass sie sich auf Grund ihrer bisherigen Ausbildung und Lebensverhältnisse in die Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland einfügen können, etwa weil sie in Deutschland oder in einem anderen EU-Staat aufgewachsen sind (vgl. § 32 Abs. 2 Satz 1 AufenthG, siehe hierzu Visumhandbuch, Abschnitt "Kindernachzug").
Vom Erfordernis der Sicherung des Lebensunterhaltes und dem Nachweis ausreichenden Wohnraums ist in den Fällen des § 29 Abs. 2 AufenthG abzusehen, vgl. Ausführungen unter Vereinfachter Familiennachzug zu Schutzberechtigten.
Volljährige Kinder haben – mit Ausnahme der oben beschriebenen Konstellation entsprechend der Rechtsprechung des EuGH vom 01.08.20222 – keinen Nachzugsanspruch gemäß § 32 Abs. 1 AufenthG. Die Erteilung eines Visums zum Zweck des Familiennachzugs steht in diesen Fällen im Ermessen der Behörden und erfordert grundsätzlich das Vorliegen einer außergewöhnlichen Härte, vgl. hierzu Ausführungen zu § 36 Abs. 2 AufenthG – Nachzug sonstiger Familienangehöriger. Zudem gilt im Falle des § 36 Abs. 2 AufenthG die Voraussetzung des Nachweises der Sicherung des Lebensunterhalts sowie ausreichendem Wohnraum. In speziellen Einzelfällen kann bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen eine individuelle humanitäre Aufnahme im Rahmen des § 22 Satz 1 AufenthG in Betracht kommen, vgl. hierzu Aufnahme nach § 22 Satz 1 AufenthG. Dies sollte gegebenenfalls im Rahmen einer Beratung umfassend geprüft werden.
Hält sich ein minderjähriges Kind, welches eine Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Abs. 4 (Resettlement-Flüchtlinge), § 25 Abs. 1 (Asylberechtigte) oder Abs. 2 Alt. 1 (anerkannte Flüchtlinge) AufenthG oder eine dementsprechende Niederlassungserlaubnis besitzt im Bundesgebiet ohne einen sorgeberechtigten Elternteil auf (unbegleitet), gewährt § 36 Abs. 1 AufenthG den Eltern dieses Kindes einen Nachzugsanspruch.
Als „Eltern“ gelten hierbei zunächst die leiblichen Eltern gemäß § 1589 BGB. Der Nachzugsanspruch kann grundsätzlich aber auch Adoptiveltern zustehen (vgl. BT-Drs. 16/5065, S. 176). Denn nach dem deutschen Recht führt eine Adoption dazu, dass Verwandtschaftsverhältnisse zu den leiblichen Eltern erlöschen und das Verwandtschaftsverhältnis zu den Annehmenden gemäß §§ 1754, 1755 BGB begründet wird. So werden die Adoptiveltern zu Verwandten in grader aufsteigender Linie ersten Grades, wie es Art. 10 Abs. 3 Bst. a FamZ-RL für einen Nachzugsanspruch verlangt. Gemäß § 22 EGBGB unterliegt die Adoption dem Recht des Staates, welchem die Person angehört, die das Kind annehmen will. Daher ist im Einzelfall unter Hinzuziehung des jeweiligen Rechtsregimes zu prüfen, ob eine dem deutschen Recht vergleichbare Volladoption angenommen werden kann, durch die eine entsprechende Verwandtschaftsbeziehung begründet wird.
Die Voraussetzung, dass sich kein sorgeberechtigter Elternteil im Bundesgebiet aufhält, ist im Übrigen auch dann erfüllt, wenn ein Elternteil zeitgleich oder im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit dem anderen Elternteil den Lebensmittelpunkt ins Bundesgebiet verlagert (BVerwG, Urteil vom 18.04.2013 - 1 C 9.12, Rn.13, asyl.net: M20813). Die effektive Durchsetzung des Minderjährigenschutzes nach Art. 10 Abs. 3 Bst. a FamZ-RL verbietet zudem jede rechtswidrige Verwaltungspraxis, welche den grundsätzlich beiden Eltern zustehenden Nachzugsanspruch vereitelt.
Anders als in den vorbezeichneten Fällen ist im Rahmen des Elternnachzugs grundsätzlich von den Voraussetzungen der Lebensunterhaltssicherung und dem Nachweis ausreichenden Wohnraums abzusehen, vgl. § 36 Abs. 1 AufenthG. Dies deckt sich insoweit mit den europarechtlichen Vorgaben der FamZ-RL. Denn gemäß Art. 10 Abs. 3 Bst. a FamZ-RL haben die Mitgliedstaaten den Eltern eines unbegleiteten minderjährigen Kindes die Einreise und den Aufenthalt unabhängig von diesen Voraussetzungen zu gestatten.
Zudem ist kein Nachweis von Sprachkenntnissen erforderlich.
Ein Anspruch auf Elternnachzug besteht nach Maßgabe des § 36 Abs. 1 AufenthG nur solange das in Deutschland lebende, unbegleitete Kind „minderjährig“ ist. Damit kommt der Frage eine erhebliche Bedeutung zu, auf welchen Zeitpunkt für die Bestimmung der Minderjährigkeit des den Nachzug vermittelnden Kindes abzustellen ist.
In einem wegweisenden Urteil vom 12.4.2018 entschied der Europäische Gerichtshof (EuGH) hierzu, dass eine Person, die zum Zeitpunkt ihrer Einreise und Asylantragstellung in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union unter 18 Jahre alt war, aber während des Asylverfahrens die Volljährigkeit erreicht und später als Flüchtling anerkannt wird, als minderjährig im Sinne der Definition von Art. 2 Bst. f FamZ-RL anzusehen ist und daher ein Recht auf Familiennachzug nach Art. 10 Abs. 3 Bst. a FamZ-RL fortbesteht, soweit der Familiennachzug innerhalb von 3 Monaten nach Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft beantragt wird (vgl. Urteil vom 12.04.2018, C-550/16, A und S gegen die Niederlande, asyl.net: M26143, sowie asyl.net: Meldung vom 16.04.2018).
Zur Bedeutung dieser Entscheidung für die bis dato geltende, deutsche Rechtspraxis siehe: Beitrag "Familiennachzug zu volljährig gewordenen unbegleiteten Minderjährigen. Anmerkungen zum EuGH-Urteil vom 12. April 2018 in der Rechtssache A. und S." von Heiko Habbe im Asylmagazin 5/2018, S. 149-153 heraus.
Das Auswärtige Amt lehnte die Anwendung des vorbezeichneten EuGH-Urteils und damit einen Nachzug der Eltern nach Erreichen der Volljährigkeit des als Flüchtling anerkannten Kindes lange unter Bezugnahme auf die bisherige Rechtsprechung des BVerwG ab, wonach für die Beurteilung der Minderjährigkeit auf den Zeitpunkt der letzten behördlichen/ tatsachengerichtlichen Entscheidung abzustellen sei (vgl. Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der BT-Abgegeordneten Ulla Jeplke vom 21.01.2019, S. 26). Zudem wurde darauf verwiesen, dass der niederländische Rechtsrahmen nicht mit der in Deutschland geltenden Gesetzeslage vergleichbar sei, da das deutsche Aufenthaltsgesetz den nachziehenden Eltern kein eigenständiges Aufenthaltsrecht vermitteln würde, sobald das hier lebende Kind die Volljährigkeit erreiche.
Mit einem weiteren wichtigen Urteil vom 01.08.2022 bestätigte der EuGH seine vorbezeichnete Rechtsprechung auch für den deutschen Rechtsraum (EuGH, Urteil vom 01.08.2022 - C-273/20, C-355/20 Deutschland gg. SW, BL und BC - asyl.net: M30811, sowie asyl.net: Meldung vom 01.08.2022) und stellte nochmals klar, dass ein Abstellen auf den Zeitpunkt, zu dem die zuständige Behörde über den Antrag auf Einreise und Aufenthalt im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaates zum Zweck der Familienzusammenführung entscheidet (Entscheidung über den Nachzugsantrag der Eltern), als Zeitpunkt, nach dem sich die Beurteilung der Minderjährigkeit des hier lebenden anerkannten Flüchtlings richtet, weder mit den Zielen der Richtlinie betreffend das Recht auf Familienzusammenführung (FamZ-RL) noch mit den Anforderungen in Einklang stünde, die sich aus der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ergeben. Daher darf der Antrag auf Familiennachzug von Eltern zu hier lebenden, ursprünglich als unbegleitete Minderjährige eingereisten anerkannten Flüchtlingen nicht mit dem Argument abgelehnt werden, dass die hier lebende Person vor der Entscheidung über den Antrag auf Familienzusammenführung bereits volljährig geworden ist.
Darüber hinaus machte der EuGH deutlich, dass Art. 13 Abs. 2 i.V.m. Art. 13 Abs. 1 FamZ-RL die Mitgliedstaaten verpflichte, den Angehörigen ein Aufenthaltsrecht für mindestens 1 Jahr zu gewähren, sobald ihrem Antrag auf Familiennachzug stattgegeben wurde. Daraus resultiere die Pflicht den Aufenthaltstitel der Eltern auch dann für ein Jahr zu erteilen, wenn der Minderjährige bereits die Volljährigkeit erreicht habe.
Das Auswärtige Amt hat mittlerweile Weisungen erlassen, die die deutschen Auslandsvertretungen dazu auffordern, die Vorgaben des EuGH wie folgt umzusetzen (vgl. Auswärtiges Amt, Erlass/Behördliche Mitteilung vom 07.12.2021 - 508-2-543.53/2 - asyl.net: M31186; Auswärtiges Amt, Erlass/Behördliche Mitteilung vom 09.09.2022 - 508-543.53/2 - asyl.net: M31184; Auswärtiges Amt, Erlass/Behördliche Mitteilung vom 28.10.2022 - 508-543.53/2; Bundesministerium des Innern, Erlass/Behördliche Mitteilung vom 07.11.2022 - M3-21002/1#73 - asyl.net: M31185; sowie asyl.net: Meldung vom 22.12.2022):
Nach der EuGH-Resprechung und den bisherigen Weisungen ergeben sich aktuell folgende Hinweise für die Beratungspraxis:
Die soeben genannten Voraussetzungen für den Elternnachzug gelten im Übrigen auch bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen (GFK), die verheiratet sind: Der EuGH entschied in einem Urteil vom 17.11.2022, einen Fall aus Belgien betreffend, dass ein unbegleiteter minderjähriger Flüchtling nicht unverheiratet sein muss, um das Recht auf Elternnachzug nach der EU-Familienzusammenführungsrichtlinie zu erlangen (EuGH, Urteil vom 17.11.2022 - Rechtssache C‑230/21).
Da die FamZ-RL keine Anwendung auf subsidiär Schutzberechtigte findet, kommt eine Übertragung der vom EuGH entwickelten Grundsätze auf diesen Personenkreis bislang nicht in Betracht (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.12.2022 - 1 C 31.21, BVerwG, Urteil vom 08.12.2022 - 1 C 59.20, BVerwG, Urteil vom 08.12.2022 - 1 C 56.20). Gleichsam findet die vorbezeichnete Rechtsprechung keine Anwendung auf sogenannte „Altfälle“, da die Änderung der (wenn auch höchstrichterlichen) Rechtsprechung nach herrschender Meinung keine Änderung der Sach-und Rechtslage im Sinne des § 51 VwVfG darstellt und ein Wiederaufgreifen eines bestandkräftigen Verfahrens damit verwehrt bleibt.
Vertiefende Hinweise zum Vorgehen für die Beratungspraxis formulieren die Fachinformationen des DRK-Suchdienstes zum Familiennachzug von und zu Flüchtlingen vom 05. September 2022 sowie die Fortbildungsunterlagen vom 28.09.2022 zur aktuellen Rechtsprechung zum Familiennachzug zu Schutzberechtigten.
Schließlich stellt der EuGH in dem vorbezeichneten Urteil vom 01.08.2022 heraus, dass die Ablehnung eines Antrags auf Familienzusammenführung eines Elternteils/ der Eltern mit dem als Flüchtling anerkannten minderjährigen Kind nicht allein damit begründet werden kann, dass die Familie während der Zeit ihrer Trennung, die auf eine Sondersituation des Kindes als Flüchtling zurückzuführen ist, kein echtes Familienleben geführt habe und damit keine tatsächliche familiäre Bindung (im Sinne des Art. 16 Abs. 1 Bst. b FamZ-RL) bestehe. Es gehe auch die Annahme fehl, dass jegliche familiäre Bindung mit Eintritt der Volljährigkeit wegfalle. Demgegenüber betont der EuGH aber auch, dass die bloße Verwandtschaft in gerader aufsteigender Linie ersten Grades für die Annahme einer tatsächlichen familiären Beziehung nicht genüge. Vielmehr bedürfe es hierfür der Feststellung, dass die familiäre Bindung wirklich gegeben ist oder der Wille besteht, eine solche Bindung herzustellen oder aufrechtzuerhalten. Nach Ansicht des EuGH ist es in diesem Zusammenhang nicht erforderlich, dass das zusammenführende Kind und der betreffenden Elternteil/ die Eltern im selben Haushalt bzw. unter einem Dach zusammenleben oder sich gegenseitig finanziell unterstützen. Auch gelegentliche Besuche, sofern sie möglich sind, und regelmäßige Kontakte jedweder Art können die Annahme begründen, dass diese Personen persönliche und emotionale Beziehungen wieder aufbauen, und damit als Beleg für das Bestehen einer tatsächlichen familiären Beziehung genügen. Dies sollte im Antragsverfahren hinreichend dargelegt werden.
Soweit ein Nachzug unter den vorbezeichneten Regelungen ausscheidet, kommt eine Zusammenführung „sonstiger Familienangehöriger“ mit der in Deutschland aufenthaltsberechtigten Person nach Maßgabe des § 36 Abs. 2 AufenthG in Betracht, wenn dies zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte erforderlich ist.
Vom Begriff der „sonstigen Familienangehörigen“ werden insbesondere Angehörige erfasst, die nicht zur Kernfamilie zählen und damit nicht über einen Nachzugsanspruch verfügen. Dies können Großeltern, volljährige Kinder, Geschwister, Onkel oder Tanten, Nichten und Neffen, Vollwaisen, Pflege- und Stiefkinder sein.
Der Wortlaut der außergewöhnlichen Härte macht bereits deutlich, dass dieser Nachzugsmöglichkeit eine hohe Hürde gesetzt wird. So kann das Vorliegen von einer außergewöhnlichen Härte dann angenommen werden, wenn die Ablehnung des begehrten Aufenthaltstitels bzw. Visums im Einzelfall zu Härten führt, welche unter Berücksichtigung des Schutzgebotes von Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 GG im Vergleich zu den nach §§ 27 bis 32 AufenthG gestatteten und den nicht erlaubten Fällen des Familiennachzugs als außergewöhnlich zu bewerten sind. Dazu muss ein konkreter Einzelfall vorliegen, der in seiner Art und Schwere so gravierend ist, dass die Versagung des Aufenthaltstitels bzw. Visums zu einer unerträglichen Härte führen würde, die mit Blick auf das Schutzgebot des Art. 6 GG und den Zweck der §§ 27 ff. AufenthG unerträglich wäre und somit ausnahmsweise zur Erteilung des Visums führt.
Hiervon können Fälle erfasst werden, in denen ein Familienmitglied auf die Lebenshilfe eines anderen Familienmitglieds durch die Herstellung der familiären Gemeinschaft zwingend angewiesen ist (besondere Betreuungsbedürftigkeit) und die Lebenshilfe zumutbar nur im Bundesgebiet erbracht werden kann (keinerlei Betreuungsmöglichkeit im Herkunftsstaat, vgl. Nr. 36.2.2.3. AVwV-AufenthG). Betreffend der Visumserteilung zur Pflege eines Angehörigen wegen außergewöhnlicher Härte vgl. Beschluss des OVG Berlin-Brandenburg vom 18.12.2019 - 11 N 59.19, asyl.net: M27973. Zur Bejahung einer außergewöhnlichen Härte im Kontext des Elternnachzugs zu einem volljährigen Kind mit subsidiärem Schutzstatus (u.a. wegen Verlust des Nachzugsrechts durch gesetzliche Aussetzung bei gleichzeitig besonderer Intensität der Mutter-Sohn-Beziehung) vgl. VG Berlin, Urteil vom 31.08.2022 - 38 K 291/20 V - asyl.net: M31267.
Härtefallbegründende Umstände müssen sich stets aus den individuellen Besonderheiten des Einzelfalls ergeben (z.B. Krankheit, Behinderung, Pflegebedürftigkeit, psychische Not). Umstände die sich aus den allgemeinen Lebensverhältnissen im Herkunftsland ergeben, können im Rahmen einer außergewöhnlichen Härte nicht berücksichtigt werden. Dies meint im Einzelnen ungünstige schulische, wirtschaftliche, soziale oder sonstige Umstände, vgl. AVwV zum AufenthG, Abschnitt 36.2.2.3.
Zusätzlich erschwerend wirkt die Tatsache, dass im Rahmen des Nachzugs nach § 36 Abs. 2 AufenthG regelmäßig der Nachweis der Lebensunterhaltssicherung (inkl. ausreichenden Krankenversicherungsschutzes) und ausreichenden Wohnraums zu erbringen ist. Die Privilegierung des § 29 Abs. 2 Satz 2 AufenthG findet hier keine Anwendung.
In der Beratungspraxis erlangen wiederholt Konstellationen, in denen Eltern zu unbegleiteten, minderjährigen Schutzberechtigten mit minderjährigen Geschwistern des Schutzberechtigten gemeinsam nachziehen möchten, große Bedeutung:
Die Eltern erhalten dabei unter Verzicht auf den Nachweis ausreichenden Wohnraums und der Lebensunterhaltssicherung ein Visum nach Maßgabe der §§ 6 Abs. 3 i.V.m. 36 Abs. 1 AufenthG.
Der nach dem AufenthG bestehende Nachzugsanspruch entspricht den Vorgaben des Art. 10 Abs. 3 Bst. a FamZ-RL und betrifft nach seinem Wortlaut ausschließlich Verwandte des unbegleiteten minderjährigen Schutzberechtigen in gerader aufsteigender Linie ersten Grades (Eltern).
Einen Nachzugsanspruch für Geschwister in dieser Form wird durch die FamZ-RL nicht festgeschrieben. Ihr Nachzugsrecht leitet sich nach Ansicht des deutschen Gesetzgebers von den nachziehenden Eltern ab und ist an den Voraussetzungen der § 32 AufenthG zu messen. Darüber hinaus kommt ein Nachzug zum in Deutschland aufhältigen Geschwisterkind nur nach Maßgabe des § 36 Abs. 2 AufenthG Betracht. Dieser Sichtweise folgt auch das Auswärtige Amt, was für die Entscheidungspraxis der Auslandsvertretungen maßgeblich ist, vgl. Erlass/Behördliche Mitteilung des Auswärtigen Amtes vom 20.03.2017 - 508-3-543.53/2 - asyl.net: M24862.
Dabei steht dem Nachzugsrecht des Geschwisterkindes nach § 32 AufenthG nach einheitlicher Rechtsprechung grundsätzlich nicht entgegen, dass die Eltern in der hier beschriebenen Konstellation „nur“ ein befristetes Visum nach § 6 Abs. 3 i.V.m. 36 Abs. 1 AufenthG zum Zeitpunkt der Visumbeantragung besitzen und gemeinsam mit dem minderjährigen Geschwisterkind ins Bundesgebiet einreisen möchten. Denn bereits die Erteilung der elterlichen Visa gemäß § 6 Abs. 3 Satz 2 AufenthG richtet sich nach den Vorschriften für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. Beabsichtigen die Eltern mit dem nachzugswilligen Geschwisterkind in familiärer Gemeinschaft zu leben, wäre es reiner Formalismus, die sich an das Visum anschließende Erteilung der Aufenthaltserlaubnis abzuwarten, vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 22.12.2016 – OVG 3 S 106.16, Rn. 3, asyl.net: M24564; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 22.12.2016 – OVG 3 S 98.16, Rn.3, asyl.net: M24860; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 21.12.2015 – OVG 3 S 95.15, Rn.2; so auch Nr. 29.1.2.2 der AVwV-AufenthG.
Probleme hinsichtlich des Geschwisternachzugs bereitet, dass in der behördlichen Praxis ein Visum häufig aus Gründen mangelnder Lebensunterhaltssicherung und fehlendem ausreichenden Wohnraums abgelehnt wird.
Denn sowohl der Kindernachzug (§ 32 AufenthG) als auch ein Nachzug im Rahmen des § 36 Abs. 2 AufenthG verlangen nach der Systematik des AufenthG grundsätzlich die Erfüllung beider Voraussetzungen. Denn da die nachzugsberechtigten Eltern nicht selbst über ein Aufenthaltsrecht nach Maßgabe des § 29 Abs. 2 Satz 1 AufenthG verfügen, findet die Privilegierung des § 29 Abs. 2 Satz 2 AufenthG (Absehen vom Erfordernis der Lebensunterhaltssicherung und ausreichendem Wohnraum) beim Geschwisternachzug in dieser Konstellation keine Anwendung. Daher steht es im Ermessen der zuständigen Ausländerbehörde und Auslandsvertretung, vom Erfordernis des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG abzusehen, welches in der derzeitigen Behördenpraxis oftmals zu Ungunsten der antragstellenden Geschwister ausgeübt wird.
Ein Verzicht auf das Erfordernis ausreichenden Wohnraums ist nach Ansicht des Auswärtigen Amtes weder im Rahmen des Ermessens noch durch die Annahme eines atypischen Falles gerechtfertigt, vgl. Erlass/Behördliche Mitteilung des Auswärtigen Amtes vom 20.03.2017 - 508-3-543.53/2 - asyl.net: M24862. Dies bestätigt auch die Rechtsprechung des für das Visumsverfahren allein zuständigen VG Berlin (Urteil vom 30.01.2019 - 20 K 538.17 V - asyl.net: M27126 und Urteil vom 01.02.2019 - 15 K 936.17 V - asyl.net: M27094).
Ein Absehen vom Erfordernis eigenständiger Sicherung des Lebensunterhaltes sei darüber hinaus nur dann möglich, wenn ein atypischer Fall angenommen werden könne, wofür Aspekte wie die aktuelle Wohnsituation des Kindes (Unterkunft im Flüchtlingslager, bei Verwandten, im eigenen Wohnort etc.) oder die Betreuungssituation des Kindes nach Ausreise der Eltern (Zumutbarkeit, dass ein Elternteil vorerst zurück bleibt oder Betreuung durch andere Verwandte) durch die Auslandsvertretung zu würdigen seien.
Getragen wird das Vorgehen der Auslandsvertretungen auch von der gegenwärtigen Rechtsprechung, die dahingehend argumentiert, dass sich die Frage, ob vom Erfordernis der Lebensunterhaltssicherung abgesehen werden kann, neben der Situation im Herkunftsland u.a. nach dem Zweck der den Eltern erteilten Aufenthaltserlaubnis und ihrem weiteren, einen Kindernachzug vermittelnden (sicheren) Bleiberecht im Bundesgebiet richtet (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 21.12.2016 und 22.12.2016 a.a.O. mit weiteren Nachweisen). Ist dieses Bleiberecht – wegen zeitnahem Eintritt der Volljährigkeit des unbegleiteten minderjährigen Kindes, zu dem sie gemäß § 36 Abs. 1 AufenthG nachziehen – zeitlich eng begrenzt, erscheint es nach Ansicht der Rechtsprechung auch unter Berücksichtigung nationaler und unionrechtlicher Schutzgebote (insbesondere Art. 6 Abs. 1 GG, Art. 8 Abs. 1 EMRK und Art. 24 Abs. 2 und Abs. 3 GR-Charta) gerechtfertigt, eine Ausnahme vom Erfordernis der Lebensunterhaltssicherung abzulehnen. Dies gelte, sofern nicht die Würdigung der Umstände des Einzelfalls etwas anderes ergäbe, vgl. BVerwG, Urteil vom 26.08.2008 – 1 C 32/07, asylnet: M14389 und BVerwG, Urteil vom 13.06.2013 – 10 C 16/12.
Denn es sei zu berücksichtigen, dass das Nachzugsrecht der Eltern nur bis zum Eintritt der Volljährigkeit besteht und allein dem Schutz des unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings und seinem Interesse an der Familieneinheit mit seiner Familie, nicht jedoch eigenständigen Interessen der Eltern am Zusammenleben mit dem Kind diene. Eine solche Annahme sei durch das AufenthG bestärkt, welches den Eltern nach Erreichen der Volljährigkeit des Kindes kein eigenständiges Aufenthaltsrecht gewährt. Hinsichtlich der Betrachtung des Bleiberechts der Eltern sei zudem ein mögliches zukünftiges Asylverfahren für das Visumsverfahren des Kindes unbeachtlich (OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 22.12.2016, OVG 3 S 106.16, Rn. 7, a.a.O. - mit weiteren Nachweisen).
Dem könnte entgegnet werden, dass Art. 8 EMRK Kindern und ihren Eltern ein Sorge- und Umgangsrecht gewährleistet. Auch wenn Art. 8 EMRK nicht der Gewährleistung eines Rechts auf Einreise in einen bestimmten Staat dient, besteht, nach Ansicht der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), im Rahmen des Familiennachzugs zu Flüchtlingen die Pflicht, den Fluchthintergrund und die durch diesen bedingte Störung des Familienlebens hinreichend zu berücksichtigen, vgl. EGMR, Urteil vom 10.07.2014, 2260/10, Tanda – Muzinga, Rn. 73. Die Zusammenführung der Angehörigen im Aufnahmestaat könne dabei unter Umständen das einzige Mittel darstellen, dass Familienleben wieder aufzunehmen.
Art. 7 der Grundrechtecharta (GR-Ch) verbirgt zudem das Recht eines jeden auf Achtung des Privat- und Familienlebens. Darüber hinaus legt Art. 24 Abs. 2 GR-Ch die Verpflichtung fest, dass bei allen Maßnahmen von öffentlichen und privaten Einrichtungen das Wohl des Kindes als vorrangige Erwägung zu berücksichtigen ist. Gerade mit Blick auf die Zumutbarkeit, dass ein Elternteil vorerst zurück bleibt, sei darauf hingewiesen, dass Art. 24 Abs. 3 GR-Ch jedem Kind einen Anspruch auf regelmäßige Beziehungen und direkte Kontakte zu beiden Eltern gewährt. Diese Bestimmungen müssen nach Ansicht des EUGH von den Mitgliedstaaten bei der Auslegung von Art. 7 Abs. 1 Bst. c) FamZ-RL (Möglichkeit der Einschränkung des Familiennachzugs wegen mangelnder Lebensunterhaltssicherung) berücksichtigt werden und entsprechende Anträge unter Berücksichtigung des Kindeswohls und dem Bestreben, das Familienleben zu fördern, geprüft werden (vgl. EUGH, Urteil vom 06.12.2012, C-356/11 und C-357/11, Rn.79, a.a.O.).
Vor diesem Hintergrund hält auch UNHCR eine zeitgleiche Visaerteilung für minderjährige Geschwister, welche mit den Eltern im Familienverbund leben und den gemeinsamen Nachzug zum schutzberechtigen Geschwisterkind nach Deutschland begehren, unter Verzicht auf das Erfordernis von Lebensunterhaltssicherung und ausreichendem Wohnraum für geboten, vgl. UNHCR, „Familienzusammenführung zu Personen mit internationalem Schutz - Rechtliche Probleme und deren praktische Auswirkungen", Asylmagazin 4/2017, S. 132-137.
In den Bundesländern Berlin und Schleswig-Holstein gilt insoweit eine günstigere Rechtsauslegung beim Geschwisternachzug, so dass die Ausländerbehörden hier dem Geschwisternachzug regelmäßig unabhängig von ausreichendem Wohnraum und Lebensunterhaltsicherung ihre Zustimmung erteilen, sofern beide Elternteile zusammen zum Kind nach Deutschland nachziehen (vgl. Sophia Eckert, „Der Geschwisternachzug", Asylmagazin 6-7/2020, S. 195; Landesamt für Einwanderung, Verfahrenshinweise zum Aufenthalt in Berlin (VAB), Abschnitt 32.1.3.; Integrationsministerium Schleswig-Holstein, Erlass/Behördliche Mitteilung vom 09.03.2020 - IV 203-7587/2020 - asyl.net: M28179).
Hinweis für die Praxis! Sollte in der Beratungssituation sichtbar werden, dass die beteiligten Behörden entsprechende Nachweise zur Lebensunterhaltssicherung und ausreichenden Wohnraums fordern, sollte mit den Beteiligten auch alternativ die Möglichkeit eines schrittweisen Nachzugs der Angehörigen durchdacht werden. Dies bedeutet, das zunächst nur ein Elternteil zur unbegleiteten, minderjährigen Person nach Deutschland reist, hier im Rahmen eines eigenen Asylverfahrens (in der Regel durch einen Antrag auf Familienasyl/Familienschutz, § 26 Abs. 3 i.V.m. Abs. 5 AsylG) ein den Nachzug ermöglichendes Aufenthaltsrecht erwirbt und dem im Ausland verbliebenen Kind so die Möglichkeit einer Einreise im Wege des vereinfachten Familiennachzugs (Kindernachzug) eröffnet.
Zur Erläuterung dieses Vorgehens empfehlen sich die Arbeitshilfe des Flüchtlingsrat Baden-Württemberg, Hinweise zum Familienasyl und „Kaskadennachzug" (Stand: 28.02.2018), sowie die Arbeitshilfe des Paritätischen Gesamtverbandes, GGUA, Familienasyl und internationaler Schutz für Familienangehörige im Kontext des Familiennachzuges (Stand: April 2018).
Beachtet werden sollte, dass soweit der Nachzug eines oder beider Elterteile zum als Flüchtling anerkannten Kind erst nach Eintritt der Volljährigkeit des Kindes erfolgt, die Möglichkeit entfällt, durch einen unverzüglichen Antrag auf „Familienasyl" ebenfalls den (abgeleiteten) Flüchtlingsstatus zu erhalten, da ein solcher Antrag gemäß § 26 AsylG nur so lange möglich ist, wie das hier lebende, schutzberechtigte Kind minderjährig ist. Für die Frage der Minderjährigkeit beim Familienasyl ist auf den Zeitpunkt der formlosen Asylantragsstellung der Eltern abzustellen, vgl. EuGH, Urteil vom 09.09.2021 - C-768/19 SE gg. Deutschland - asyl.net: M29994.
Abschließend sei darauf hingewiesen, dass im Fall, dass ein Geschwisternachzug auf Grundlage des § 36 Abs. 2 AufenthG erfolgen soll, das Vorliegen einer außergewöhnlichen Härte aus der Trennung des in Deutschland aufhältigen Kindes zu dem nachzugswilligen Geschwisterkind folgen muss. Die Tatsache, dass der zeitgleich beantragte Elternnachzug zu einer Trennung von den Eltern und dem alleinigen Verbleib des Geschwisterkindes im Ausland führt, begründet nach Ansicht des Auswärtigen Amtes keine außergewöhnliche Härte zwischen den Geschwistern (Erlass/Behördliche Mitteilung des Auswärtigen Amtes vom 20.03.2017 - 508-3-543.53/2 - asyl.net: M24862).
Im Rahmen der Debatte um die zeitweise Aussetzung des Familiennachzugs zu subsidiär schutzberechtigten Personen (2016-2018) erlangte § 22 Satz 1 AufenthG besondere Aufmerksamkeit. Denn die Bundesregierung betonte wiederholt, dass die Möglichkeit Personen aus völkerrechtlichen oder dringenden humanitären Gründen aus dem Ausland aufzunehmen, wie es § 22 Satz 1 AufenthG festschreibt, auch für diesen Personenkreis trotz der Aussetzung Anwendung finden sollte. Hieran hält der Gesetzgeber auch nach der Neuregelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigen (2018) fest, vgl. § 36 a Abs. 1 Satz 4 AufenthG, der die Anwendung des § 22 AufenthG ausdrücklich unberührt lässt.
Zu beachten ist, dass § 22 Satz 1 AufenthG nur dann Anwendung finden kann, wenn sich die betroffene Person zum Zeitpunkt der Erstentscheidung über ihr Aufenthaltsrecht im Ausland befindet und ihr kein anderes Einreiserecht gebührt (Nr. 22.1.1.2.AVwV-AufenthG). Die Regelung gewährt weder einen Rechtsanspruch, noch kann sie als Auffangregelung oder allgemeine Härtefallregelung unter den bestehenden Vorschriften des AufenthG verstanden werden, vgl. Nr. 22.1.4. AVwV-AufenthG.
Unter Berücksichtigung der Verwaltungspraxis des Auswärtigen Amtes ist vor allem die zweite Alternative der dringenden humanitären Gründe für die Beratungssituation relevant. Hierunter ist eine besonders gelagerte Notsituation zu verstehen. Insbesondere muss sich der/die Schutzsuchende in einer solchen Sondersituation befinden, die ein Eingreifen zwingend erfordert und es rechtfertigt, ihn/sie im Gegensatz zu anderen Ausländern in vergleichbarer Lage aufzunehmen. Die Aufnahme muss im konkreten Einzelfall ein Gebot der Menschlichkeit sein, vgl. Nr. 22.1.1.2. AVwV- AufenthG.
Zur Beurteilung des Einzelfalls wird eine Abwägung nachfolgender Gesichtspunkte vorgenommen, die für und gegen eine Aufnahme sprechen:
Wie der Wortlaut „dringend“ bereits zu erkennen gibt, muss ein Eingreifen im konkreten Einzelfall zwingend erforderlich sein. Dabei weisen das Auswärtige Amt und die dazugehörigen Auslandsvertretungen ausdrücklich darauf hin, dass es sich hierbei um Fälle humanitärer Notlagen handeln muss, die sich von den Lebensumständen im Aufenthaltsland deutlich abheben, aus der eine Gefahr für Leib und Leben des Betroffenen folgt. Dabei müsse sich die konkrete Situation der aufzunehmenden Person als „singuläres Einzelschicksal“ darstellen, das sich von vergleichbaren Situationen durch Intensität und den Grad der Gefährdung unterscheidet.
Weiter müssen die allgemeinen Voraussetzungen des §§ 5 und 11 AufenthG erfüllt sein, wobei ein Absehen im Wege des Ermessens möglich ist.
Die besondere Gefährdungssituation ist seitens der um Aufnahme ersuchenden Person unter Beifügung geeigneter Nachweise (z.B. Atteste) ausführlich darzulegen und an das Auswärtige Amt für eine Vorbewertung unter 508-R1(at)auswaertiges-amt.de zu übersenden. Ebenso sollte der BAMF Bescheid des in Deutschland schutzberechtigten Familienmitglieds eingereicht werden. Soweit entsprechende Anfragen an die Auslandsvertretung gerichtet werden, sollen diese ebenfalls – nach Weisung des Auswärtigen Amtes vom 20.03.2017 – dem zuständigen Referat 508 zugeleitet werden. Kommt das Auswärtige Amt aufgrund des dargelegten Sachverhalts zu der Einschätzung, dass eine besondere Gefährdungssituation im Einzelfall glaubhaft gemacht werden konnte, initiiert es eine persönliche Anhörung in der zuständigen Auslandsvertretung und setzt die um Aufnahme ersuchende Person per Email darüber in Kenntnis. Eine konkrete Terminvergabe erfolgt in der Regel zeitnah durch die zuständige Auslandsvertretung. Auf Grundlage der durchgeführten Anhörung trifft die Auslandsvertretung sodann nach interner Beteiligung der zuständigen Ausländerbehörde eine abschließende Entscheidung über das Ersuchen um humanitäre Aufnahme. Die Initiierung des Visumsverfahrens soll erst nach positivem Vorverfahren durch eine individuelle Terminvergabe erfolgen, wofür eine Terminbuchung seitens der um Aufnahme ersuchenden Person nicht erforderlich ist, vgl. BT-Drucks. 18/11473, S.20.
Eine detaillierte Darstellung zum Ablauf des Verfahrens, den verbleibenden Möglichkeiten bei Versagung der Aufnahme, sowie einer Schilderung erster Praxiserfahrungen bietet die Arbeitshilfe: "Aufnahme aus dem Ausland" beim Familiennachzug - Anwendung des § 22 Satz 1 AufenthG beim Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten, verfasst vom BBZ - Beratungs- und Betreuungszentrum für junge Flüchtlinge und MigratInnen in Zusammenarbeit mit dem Informationsverbund Asyl & Migration (Stand Juni 2017). Die Arbeitshilfe liefert zudem ein Musterschreiben, welches mögliche Argumente für ein Aufnahmeersuchen nach § 22 Satz 1 AufenthG beinhaltet.
Mit Urteil vom 07.11.2017 hatte das Verwaltungsgericht Berlin erstmals die Bundesregierung Deutschland dazu verpflichtet, einer syrischen Familie ein Visum zum Familiennachzug auf Grundlage des § 22 Satz 1 AufenthG zu erteilen. Geklagt hatte eine Familie (Eltern und Geschwister) aus Damaskus, die den Nachzug zu ihrem schwer traumatisierten, 16-jährigen Sohn begehrte, der in Deutschland lediglich subsidiären Schutz erhalten hatte, VG Berlin, Urteil vom 07.11.2017 - 36 K 92.17 V, asyl.net: M25744.
Bezugnehmend auf vorbezeichnetes Urteil des VG Berlin zur Anwendung von § 22 Satz 1 AufenthG nach den Vorgaben der UN-Kinderrechtskonvention: Hendrik Cremer, "Kein Recht auf Familie für subsidiär Schutzberechtigte?", Asylmagazin 03/2018, S. 65-70.
Seit Inkrafttreten der Neuregelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten in § 36a AufenthG hat § 22 im Kontext des Familiennachzugs erheblich an Bedeutung verloren, siehe Sonderfall: subsidiär Schutzberechtigte.
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