Aufnahme aus völkerrechtlichen und dringenden humanitären Gründen (§ 22 Satz 1 AufenthG)

§ 22 AufenthG ist eine der wenigen Normen im Aufenthaltsgesetz nach der besonders schutzbedürftige Personen bereits aus dem AuslandSchutz in Deutschland beantragen können.

Der Anwendungsbereich des § 22 S. 1 AufenthG, der es ermöglicht Personen aus völkerrechtlichen oder dringenden humanitären Gründen aus dem Ausland aufzunehmen, beschränkt sich jedoch auf Einzelfälle. In der Praxis wird eine Aufnahme nach der Norm äußerst selten gewährt.

§ 22 S. 1 AufenthG findet nur dann Anwendung, wenn sich die betroffene Person zum Zeitpunkt der Erstentscheidung über ihr Aufenthaltsrecht im Ausland befindet und ihr kein anderes Einreiserecht gebührt, vgl. Nr. 22.1.1 AVwV-AufenthG. Die Regelung gewährt weder einen Rechtsanspruch, noch kann sie als Auffangregelung oder allgemeine Härtefallregelung unter den bestehenden Vorschriften des AufenthG verstanden werden, vgl. Nr. 22.0.1.2 AVwV-AufenthG.

Unter Berücksichtigung der Verwaltungspraxis des Auswärtigen Amtes ist vor allem die zweite Alternative der dringenden humanitären Gründe für die Beratungssituation relevant. Hierunter ist eine besonders gelagerte Notsituation zu verstehen. Insbesondere muss sich die schutzsuchende Person in einer solchen Sondersituation befinden, die ein Eingreifen zwingend erfordert und es rechtfertigt, sie im Gegensatz zu anderen Personen in vergleichbarer Lage aufzunehmen. Die Aufnahme muss im konkreten Einzelfall ein Gebot der Menschlichkeit sein, vgl. Nr. 22.1.1.2. AVwV- AufenthG. Von den allgemeinen Voraussetzungen des § 5 AufenthG kann gem. § 5 Abs. 3 S. 2 AufenthG abgesehen werden.

Zur Beurteilung des Einzelfalls wird eine Abwägung nachfolgender Gesichtspunkte vorgenommen, die für und gegen eine Aufnahme sprechen:

  • Bestehen einer erheblichen und unausweichlichen Gefahr für Leib und Leben
  • Enger Bezug zu Deutschland z.B. wegen hier lebender Familienangehöriger oder früherer Aufenthalte im Bundesgebiet
  • Besondere Anknüpfungspunkte in ein bestimmtes Bundesland
  • Kontakte zu Personen in Deutschland, die gegebenenfalls bereit wären, Kosten für Aufenthalt und Transport zu übernehmen
  • Möglichweise bereits bestehende Kontakte zu anderen Staaten, für die eine Übernahme in Betracht kommen könnten

Die konkrete Situation der aufzunehmenden Person muss sich als „singuläres Einzelschicksal“ darstellen, das sich von vergleichbaren Situationen durch Intensität und den Grad der Gefährdung unterscheidet.

In Visumsanträgen zum Familiennachzug wird regelmäßig das Vorliegen von Gründen für eine Aufnahme nach § 22 S. 1 AufenthG mitgeprüft, wenn die Voraussetzung für ein Visum zum Familiennachzug nicht vorliegen und Angaben zu Besonderheiten des Einzelfalls gemacht worden sind. Der Antrag kann jedoch auch unabhängig von einem Antrag auf ein Visum zum Familiennachzug gestellt werden. Dazu ist die besondere Gefährdungssituation unter Beifügung geeigneter Nachweise ausführlich darzulegen und an das Referat 509 des Auswärtigen Amts unter 509-Aufnahmeersuchen-Ausland(at)zentrale.auswaertiges-amt.de zu übersenden. Kommt das Auswärtige Amt aufgrund des dargelegten Sachverhalts zu der Einschätzung, dass eine besondere Gefährdungssituation im Einzelfall glaubhaft gemacht werden konnte, initiiert es eine persönliche Anhörung in der zuständigen Auslandsvertretung. Auf Grundlage der durchgeführten Anhörung trifft die Auslandsvertretung sodann nach interner Beteiligung der zuständigen Ausländerbehörde eine abschließende Entscheidung über das Ersuchen um humanitäre Aufnahme. Vgl. auch AA, Visumhandbuch, Abschnitt "Aufnahmen aus dem Ausland nach § 22 AufenthG".

Während der zeitweisen Aussetzung des Familiennachzugs zu subsidiär schutzberechtigten Personen (2016-2018) erlangte § 22 S. 1 AufenthG besondere Aufmerksamkeit. Denn die Bundesregierung betonte wiederholt, dass die Möglichkeit Personen gem. § 22 S. 1 AufenthG aufzunehmen, auch für diesen Personenkreis trotz der Aussetzung Anwendung finden sollte (vgl. Arbeitshilfe "Aufnahme aus dem Ausland" beim Familiennachzug - Anwendung des § 22 Satz 1 AufenthG beim Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten", 2017). Seit Inkrafttreten der Neuregelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten in § 36a AufenthG hat § 22 im Kontext des Familiennachzugs erheblich an Bedeutung verloren, siehe zum Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten: Sonderfall: subsidiär Schutzberechtigte.

Auch nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan im August 2021 erfuhr § 22 AufenthG im Beratungskontext erneut an Bedeutung. Ehemalige afghanische Ortskräfte oder andere besonders gefährdete Personen aus Afghanistan wurden für einen bestimmten Zeitraum aufgrund von Aufnahmezusagen durch das BMI aus dem Ausland nach Deutschland gem. § 22 S. 2 AufenthG aufgenommen. Vgl. dazu auch "Besonderheiten beim Familiennachzug aus Afghanistan", Jutta Hermanns, Asylmagazin 9/2022, S. 298.