Für den Familiennachzug zu Schutzberechtigten macht das Gesetz eine solche ausdrückliche Ausnahme (sogenannter privilegierter Familiennachzug). Dabei haben Schutzberechtigte und ihre Familienangehörigen unter bestimmten Voraussetzungen einen Anspruch auf Familienzusammenführung (siehe unten). Ansonsten steht es beim Nachzug zu Schutzberechtigten im Ermessen der Behörde, ob von der Erfüllung der Voraussetzungen abgesehen wird (siehe Ermessensentscheidung). Schließlich werden in Abgrenzung dazu die Erteilungsvoraussetzungen erklärt, die ansonsten im Regelfall für den Familiennachzug erfüllt sein müssen. Siehe hierzu Regelerteilungsvoraussetzungen.
Von dem allgemeinen Grundsatz der Sicherung des Lebensunterhalts (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG) und des Wohnraumerfordernisses (§ 29 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG) macht das Gesetz für den hier im Fokus stehenden Personenkreis der Schutzberechtigten eine ausdrückliche Ausnahme (sogenannter privilegierter Familiennachzug). Nach Maßgabe des § 29 Abs. 2 Satz 2 AufenthG „ist“ (zwingend, kein Ermessen) vom Erfordernis der Lebensunterhaltssicherung sowie dem Nachweis ausreichenden Wohnraums abzusehen, wenn sämtliche der folgenden Voraussetzungen erfüllt sind:
Die Möglichkeit einer solchen Ausnahme entspricht den Vorgaben des Art. 12 Abs. 1 FamZ-RL.
Hinweise zu den einzelnen Voraussetzungen:
Im Falle des Nachzugs der Eltern zu einer minderjährigen unbegleiteten Person, welche einen der vorbezeichneten Aufenthaltstitel besitzt, ist gemäß § 36 Abs. 1 AufenthG grundsätzlich vom Erfordernis der Lebensunterhaltssicherung und dem Nachweis ausreichenden Wohnraumsabzusehen. Hierzu vertiefend: Nachzug der Eltern zu unbegleiteten Minderjährigen.
Zu den Einzelheiten der Wahrung der 3-Monatsfrist, vgl. Fristen. Wird diese Frist verpasst, trifft die Behörde eine Ermessensentscheidung, ob von der Lebensunterhaltssicherung und dem Erfordernis ausreichenden Wohnraums abgesehen werden kann. Siehe unten unter Ermessensentscheidung.
Ebenso wandelt sich der Rechtsanspruch auf Familiennachzug in eine Ermessensentscheidung der Behörde um, wenn die Herstellung der familiären Lebensgemeinschaft in einem anderen Land als der Bundesrepublik (Drittstaat der nicht EU-Mitgliedsstaat ist) möglich und zumutbar ist. Dies wird in der Praxis häufig dann relevant, wenn der Behörde Erkenntnisse vorliegen, dass sich das nachzugswillige Familienmitglied z.B. bereits über längere Zeit in einem Drittstaat aufhält und dort über ein Aufenthaltsrecht verfügt oder die familiäre Gemeinschaft in einem Drittstaat in der Vergangenheit bereits gelebt wurde oder aber auch eines der Familienmitglieder die Staatsangehörigkeit eines Drittstaates besitzt.
Wann ist die Herstellung der familiären Einheit in einem Drittstaat möglich und zumutbar?
Ob die Herstellung der Familieneinheit in einem Drittstaat möglich ist, setzt die Klärung voraus, dass der Drittstaat eine realistische Alternative und somit ein sicherer Staat für die zusammenführende Person und ihre Familienangehörigen ist. So darf die Umsiedlung in den Drittstaat in keinem Fall bedeuten, dass die schutzberechtigte Person oder ihre Familienangehörigen Gefahr laufen, verfolgt oder zurückgewiesen zu werden. Der Begriff „besondere“ Bindung setzt zudem voraus, dass entweder die schutzberechtigte Person oder eines ihrer Familienmitglieder eine besondere familiäre, kulturelle oder soziale Bindung im Drittstaat hat (Art. 17 FamZ-RL), Vgl. Mitteilung der Kommission an den Rat und das europäische Parlament - Leitlinien zur Anwendung der Richtlinie 2003/86/EG des Rates betreffend das Recht auf Familienzusammenführung vom 03.04.2014, COM(2014) 210 final, S.27. Zum gleichen Ergebnis kommt auch das Bundesverwaltungsgericht in seiner Entscheidung vom 30.04.2009, wonach in den Fällen, in denen die familiäre Gemeinschaft nur in Deutschland gelebt werden kann, weil einem beteiligten Familienmitglied das Verlassen der Bundesrepublik nicht zumutbar ist – etwa weil ihm andernorts flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung droht -, die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, regelmäßig einwanderungspolitische Belange zurückdrängt, vgl. BVerwG, Urteil vom 30.04.2009 Rs. 1 C 3.08, asyl.net: M15791.
Die Beweislast liegt hier beim Mitgliedstaat, d.h. bei den am Visumsverfahren beteiligten Behörden, nicht jedoch bei der den Nachzug begehrenden Person (vgl. Mitteilung der Kommission a.a.O.).
Dem folgend obliegt es den im Visumsverfahren beteiligten Behörden, im Einzelfall zu prüfen, ob das nachzugswillige Familienmitglied bereits mit einem Daueraufenthaltsrecht oder mit Schutzberechtigung in einem Drittstaat lebt, vgl. Nr. 29.2.2.1. AVwV-AufenthG. Weiter ist dabei auf die im Einzelfall konkret gegebene Möglichkeit, die familiäre Lebensgemeinschaft im Drittstaat auch tatsächlich leben zu können, abzustellen. Zudem muss es der in Deutschland aufenthaltsberechtigten Person auch zumutbar sein, in dem Drittstaat zu leben, was nach Ansicht der Literatur u.a. voraussetzt, dass die gesamte Familie auch berechtigt ist, sich dort auf Dauer aufzuhalten.
Kommen die Behörden nach Abschluss dieser Prüfung zu dem Ergebnis, dass die familiäre Gemeinschaft ausschließlich im Bundesgebiet gelebt werden kann, ist von der Sicherung des Lebensunterhaltes und dem Nachweis ausreichenden Wohnraums abzusehen und das Familienmitglied hat einen Rechtsanspruch auf die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Zweck des Familiennachzugs.
Verneinen die Behörden hingegen, dass die familiäre Gemeinschaft ausschließlich im Bundesgebiet gelebt werden kann, steht es gemäß § 29 Abs. 2 Satz 1 AufenthG in ihrem Ermessen, ob sie für den Familiennachzug im Einzelfall vom Nachweis der eigenständigen Lebensunterhaltssicherung und ausreichenden Wohnraums absehen. Siehe nachfolgend unter Ermessensentscheidung.
Für die Beratung bedeutet dies, dass, wenn ein wie eingangs beschriebener Drittstaatsbezug sichtbar wird, mit der ratsuchenden Person geklärt werden sollte, über welche Aufenthaltsberechtigung das nachziehende Familienmitglied in dem betreffenden Drittstaat verfügt. In einem zweiten Schritt sollte geklärt werden, ob der in Deutschland lebenden Person auf Grundlage dieses Aufenthaltsrechtes die Einreise und der Aufenthalt in den Drittstaat möglich ist. Diese Informationen sind oft schwer zu erlangen. Hierfür kann versucht werden, mit der hiesigen Botschaft des Landes oder Nichtregierungsorganisationen (NGO) vor Ort Kontakt aufzunehmen. Auch wenn es den beteiligten Behörden obliegt, zu belegen, dass eine Herstellung der familiären Gemeinschaft im Drittstaat möglich und zumutbar ist (vgl. Mitteilung der Kommission, a.a.O.), kann es hilfreich sein, hierzu eigenständig vorzutragen, wenn im konkreten Einzelfall erkennbar wird, dass die Behörden die Drittstaatsoption in Betracht ziehen (z.B. weil die bereits aufenthaltsberechtigte Person von der Ausländerbehörde aufgefordert wird Unterlagen zur Lebensunterhaltssicherung und ihrer Wohnsituation vorzulegen). Sollte die in Deutschland schutzberechtigte Person z.B. durch einen abgelehnten Visumsantrag für den in Frage stehenden Drittstaat nachweisen können, dass ihr bereits die Einreise verweigert wurde, könnte dies als Argument gegenüber der Auslandsvertretung genutzt werden. Dies bedeutet gleichsam nicht, dass den Betroffenen grundsätzlich geraten werden sollte, einen Visumsantrag zu stellen. Vielmehr ist in jedem konkreten Einzelfall die Möglichkeit einer Einreise zu betrachten und für die Ausrichtung des strategischen Vorgehens die bestehenden Risiken mit der betroffenen Person zu erörtern. Gegebenenfalls sollte hierzu anwaltliche Unterstützung eingebunden werden.
Weiter sollte mit der ratsuchenden Person erörtert werden, welche Gründe vorgebracht werden könnten, die einem Verlassen des Bundesgebiets entgegenstehen und welche Bewerbungsbemühungen bislang zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit sowie der Wohnraumbeschaffung unternommen wurden. Gegebenenfalls sollte hier Unterstützung erfolgen.
Wenn nicht sämtliche Voraussetzungen für den Anspruch auf Familiennachzug erfüllt sind, dann ist der Nachzug zu Schutzberechtigten dennoch gegenüber dem Nachzug zu anderen in Deutschland aufenthaltsberechtigten Personen privilegiert. Die Behörden können nämlich laut Gesetz von den Voraussetzungen der Lebensunterhaltssicherung und Wohnraumerfordernis absehen, vgl. § 29 Abs. 2 S. 1 AufenthG.
Gemäß Nr. 29.2.2.1. AVwV-AufenthG soll das Ermessen der Behörden jedoch nur dann zugunsten des nachzugswilligen Familienmitglieds reduziert sein, wenn sich die in Deutschland bereits aufenthaltsberechtigte Person nachhaltig um Aufnahme einer Erwerbstätigkeit (belegt z.B. durch Vorlage einer Bescheinigung des Jobcenters) sowie um Bereitstellung von Wohnraum außerhalb des von öffentlichen Einrichtungen bemüht.
Hiergegen könnte eingewandt werden, dass eine solche Auslegung im Widerspruch zu den Zielen der FamZ-RL stehe. Erwägungsgrund 4 der Richtlinie geht davon aus, dass die Familienzusammenführung zur Schaffung soziokultureller Stabilität beitrage und so die Integration Drittstaatsangehöriger in den Mitgliedstaaten erleichtere. Dadurch werde der wirtschaftliche und soziale Zusammenhalt gefördert, der als grundlegendes Ziel der Gemeinschaft genannt wird. Ebenso lassen die Vorgaben der Richtlinie erkennen, dass das Ermessen gegenüber Schutzberechtigten und ihren Familienangehörigen großzügig auszuüben ist. Im Rahmen des Familiennachzugs ist zudem die besondere Bedeutung des verfassungsrechtlichen Schutzes von Ehe und Familie (Art. 6 Abs. 1 GG) zu berücksichtigen. Darüber hinaus ist eine solche restriktive Ausübung des Ermessens mit der Lebenswirklichkeit der hier lebenden schutzberechtigten Person kaum vereinbar: Diese stehen zum Zeitpunkt der Einleitung des Familienachzugs oftmals noch im Leistungsbezug des Jobcenters und besuchen einen Integrationskurs, welcher sie erst auf eine lebensunterhaltssichernde Erwerbstätigkeit vorbereiten soll. Eine Verpflichtung zur unmittelbaren Aufnahme einer Erwerbstätigkeit läuft somit dem Integrationsgedanken zuwider. Zudem ist die Anmietung von Wohnraum mit der vagen Aussicht auf Nachzug der Angehörigen kaum zumutbar.
Trotz dieser Argumentationsmöglichkeiten ist in der Verwaltungspraxis zu beobachten, dass die zuständigen Behörden ihr Ermessen im Familiennachzugsverfahren restriktiv ausüben und dass dieses Vorgehen durch die bisherige Rechtsprechung getragen wird, vgl. BVerwG, Urteil vom 30.04.2009 Rs. 1 C 3.08, asyl.net: M15791 und VG Berlin, Urteil vom 02.09.2016, VG 8 K 220 16 V, asyl.net: M24879 (Das Gericht geht davon aus, dass es zumutbar wäre, neben dem Integrationskurs teilweise erwerbstätig zu sein).
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