Bei allen Konstellationen des Familiennachzugs gelten grundsätzlich die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen der §§ 5, 11, 27 und 29 AufenthG, soweit die spezialgesetzliche Regelung keine Ausnahme vorsieht. § 36a AufenthG regelt unter welchen besonderen Voraussetzungen Familienangehörige der Kernfamilie zu Personen mit subsidiärem Schutz nach Deutschland nachziehen können. Nachfolgend sollen die einzelnen Voraussetzungen und Ausschlussgründe erläutert werden.
Nur Familienmitglieder der Kernfamilie sind von der Regelung begünstigt, vgl. § 36a Abs. 1 Satz 1 AufenthG. Hierzu gehören:
Zur Beurteilung der Minderjährigkeit ist beim Nachzug des Kindes auf den Zeitpunkt der Antragstellung bei der zuständigen Auslandsvertretung abzustellen, vgl. BVerwG, Urteil vom 8.12.2022 - 1 C 8.21 - asyl.net: M31119. Dagegen ist beim Nachzug der Eltern zu subsidiär schutzberechtigten Minderjährigen das Alter zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Visumsantrag (sowie Zeitpunkt der Einreise der Eltern!) maßgeblich, vgl. BVerwG, Urteil vom 8.12.2022 - 1 C 56.20. Zum Vorgehen bei drohender Volljährigkeit des subsidiär schutzberechtigten Kindes, siehe nachstehend den Abschnitt "Verfahren" -> "Bevorstehende Volljährigkeit".
§ 36a Abs. 1 Satz 1 AufenthG fordert das Vorliegen eines humanitären Grundes. Davon ist gemäß § 36a Abs. 2 S. 1 AufenthG insbesondere auszugehen, wenn
Die Aufzählung des § 36a Abs. 2 S. 1 AufenthG ist nicht abschließend, sondern beschreibt nur beispielhafte Fallkonstellationen. Andere Gründe müssen den Regelbeispielen jedoch in ihrer Art und Schwere gleichkommen. Ebenso gilt, dass ein humanitärer Grund sowohl aufseiten des nachzugswilligen Familienmitglieds als auch bei der bereits in Deutschland lebenden, schutzberechtigten Person vorliegen kann, vgl. Begründung des Gesetzesentwurfs vom 04.06.2018 (BT-Drs. 19/2438, S. 22).
Zu Nr. 1:
Die Herstellung der familiären Lebensgemeinschaft im Sinne des § 36a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 AufenthG ist laut Gesetzesbegründung insbesondere dann nicht möglich, wenn die Familienzusammenführung nicht in einem Drittstaat verwirklicht werden kann, weil der in Deutschland lebenden, schutzberechtigten Person die legale Einreise in diesen Drittstaat nicht möglich oder aus anderen Gründen unzumutbar ist. Von Letzterem ist dann auszugehen, wenn im Drittstaat z.B. eine unsichere Bleibeperpektive oder keine Möglichkeit auf eine Erwerbstätigkeit besteht. Für die Praxis bedeutet dies, dass in Fällen, in denen sich nachzugswillige Angehörige bereits in einem anderen Staat als dem gemeinsamen Herkunftsland aufhalten, erläutert werden muss, warum die Familienzusammenführung in diesem Staat nicht möglich und/oder nicht zumutbar ist.
Soweit § 36a Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG auf die Trennungszeit der Familie abstellt, bildet das Datum der Erstregistrierung des Asylgesuchs der inzwischen schutzberechtigten Person in der Bundesrepublik den Anknüpfungspunkt für die Berechnung. Sollte dies im Einzelfall nicht bekannt sein, ist das Datum des Asylantrags entscheidend (Bundesministerium des Innern, Erlass/Behördliche Mitteilung vom 13.07.2018 - M3-20010/18#3, S.3)
Zu Nr. 4:
Soweit sich Betroffene auf einen der humanitären Gründe des § 36a Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 AufenthG berufen, ist im Verfahren eine qualifizierte Bescheinigung vorzulegen. Zu den Anforderungen an einen solchen qualifizierten Nachweis sowie diesbezügliche Ansprechpartner vertiefend vgl. "Punkt 7. Wie weise ich nach, dass ich schwerwiegend krank oder pflegebedürftig bin oder eine schwere Behinderung habe?" auf der Info-Website des Auswärtigen Amts zum Familiennachzug für Schutzberechtigte (fap.diplo.de). Die Anforderungen an eine solche qualifizierte Bescheinigung sind hoch. Wenn ein Familienmitglied im Ausland eine solche Bescheidung nicht erhalten kann, empfiehlt es sich die Krankheit, Pflegebedürftigkeit oder Behinderung und die daraus resultierenden Beeinträchtigungen jedenfalls anderweitig bestmöglich darzulegen, vgl. auch Begründung des Gesetzesentwurfs vom 04.06.2018 (BT-Drs. 19/2438, S. 23). In Beirut (Libanon) und Amman (Jordanien) kann eine medizinische Begutachtung durch IOM erfolgen.
Weiterführende Erläuterungen zu den gesetzlich festgeschriebenen Regelbeispielen können der vorbezeichneten Begründung des Gesetzesentwurfs entnommen werden.
In § 36a Abs. 3 AufenthG werden Gründe benannt, wonach der Familiennachzug zu Personen mit subisidiärem Schutz regelmäßig ausgeschlossen ist.
Danach bleibt der Nachzug trotz Erfüllung der vorbezeichneten Voraussetzungen regelmäßig ausgeschlossen, wenn
Zu Abs. 3 Nr. 1:
Der Regelausschlussgrund des § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG liegt nach Auffassung der Rechtsprechung vor, wenn die Ehe erst nach Verlassen des Herkunftslandes geschlossen wurde. Es kommt hingegen nicht darauf an, ob die Flucht zum Zeitpunkt der Eheschließung noch andauerte., vgl. BVerwG, Urteil vom 17.12.2020 - 1 C 30.19 (Asylmagazin 4/2021, S. 135 ff.) - asyl.net: M29408.
Eine Ausnahme von dem Regelausschlussgrund kann neben der allgemeinen Lage im Herkunftsland auch vorliegen, wenn spezifische ehe- und familienbezogene Gesichtspunkte einen Ausschluss nach Art und Reichweite nicht (mehr) rechtfertigen. Nach der Rechtsprechung sei dafür maßgeblich, ob der Familie eine Fortdauer der räumlichen Trennung zumutbar ist sowie ob das Wiederherstellen der familiären Lebensgemeinschaft in dem Aufenthaltsstaat des*r nachziehenden Ehepartner*in möglich und zumutbar ist.
Bei der Bemessung einer (un)zumutbaren Trennungsdauer von Ehepartner*innen dem Wohl eines gemeinsamen Kleinkindes besonderes Gewicht zu. Wenn ein Familienlieben im Drittstaat unmöglich und/oder unzumutbar ist, sei eine Wartezeit zwischen Ehepartner*innen von vier Jahren grundsätzlich noch verfassungsgemäß, wenn ein (auf die Sorge beider Elternteile angewiesenes) Kleinkind von der familiären Trennung betroffen ist, sei jedoch eine Trennung von zwei Jahren bereits zu lang. Wenn die Wiederherstellung im Drittstaat möglich und zumutbar ist, betragen die Zeiträume fünf bzw. drei Jahre. Die Angaben dienen als Richtwert bei einer Eheschließung vor der Einreise in das Unionsgebiet (vgl. auch VG Berlin, Urteil vom 31.08.2023 - 24 K 55/23 V - asyl.net: M31871; zur Eheschließung im Unionsgebiet, vgl. VG Berlin, Urteil v. 27.3.2023 – VG 8 K 119/22 V), ohne Hinzutreten weiterer Umstände, die die zumutbare Trennungszeit verkürzen oder verlängern könnten.
Weitere Informationen dazu, welche spezifischen Umstände eine Ausnahme von der Regel des § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG beeinflussen können und welche zeitlichen Richtwerte für die Zumutbarkeit der räumlichen Trennung vom BVerwG entwickelt wurden, vgl. auch die „Fachinformation des DRK-Suchdienst zum Familiennachzug von und zu Flüchtlingen (März 2021)“ sowie die Hinweise des BMI an die Länder, BMI, Erlass/Behördliche Mitteilung vom 12.04.2021 - M3-21002/1#65.
Zu Abs. 3 Nr. 2:
Zum Regel-Ausnahme-Verhältnis bei Straffälligkeit gemäß § 36a Abs. 3 Nr. 2 d) AufenthG vgl. VG Berlin, Urteil vom 05.03.2020 - 38 K 71.19. V - asyl.net: M28491.
Über § 36a Abs. 3 Nr. 2 AufenthG hinaus ist der Familiennachzug (nicht nur zu subsidiär Schutzberechtigten) zu versagen, wenn es sich bei der bereits in Deutschland lebenden, subsidiär schutzberechtigten Person um eine "terroristischen Gefährder*in", "Hassprediger*in" oder Leiter*in eines verbotenen Vereines handelt, vgl.§ 27 Abs. 3a AufenthG.
Schließlich ist zu beachten, dass soweit gegen die in Deutschland lebende, schutzberechtigte Person wegen eines der in § 27 Abs. 3a genannten Gründe oder einer der in 36a Abs. 3 Nr. 2 AufenthG genannten Straftaten ein Strafverfahren eingeleitet wurde, ein Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 36a AufenthG bzw. die Entscheidung in einem entsprechenden Visumsverfahren bei der zuständigen Auslandsvertretung bis zum (rechtskräftigen) Abschluss des Verfahrens auszusetzen ist. Gleiches gilt bei Einleitung eines Widerrufs- oder Rücknahmeverfahrens des Schutzberechtigten, § 79 Abs. 3 AufenthG.
Gemäß § 36a Abs. 2 S. 2 AufenthG ist der Nachzug zu subsidiär Schutzberechtigten auf monatlich 1.000 Personen beschränkt.
Dies bedeutet, dass monatlich nicht mehr als 1.000 Visa zum Zweck des Familiennachzugs durch die deutschen Auslandsvertretungen (weltweit) erteilt werden sollen. Die Zuständigkeit für die Bestimmung der monatlich 1.000 nachzugsberechtigten Personen wurde dem Bundesverwaltungsamt übertragen. Wenn dort mehr als 1.000 entscheidungsreife Anträge vorliegen, soll anhand der von Auslandsvertretungen und Ausländerbehörden beigebrachten Informationen zu humanitären Gründen und zu Integrationsaspekten eine Auswahlentscheidung getroffen werden. Für die zu treffende Auswahlentscheidung sind das Kindeswohl und Integrationsleistungen besonders zu berücksichtigen, vgl. § 36a Abs. 2 S. 3 und 4 AufenthG.
Die Sicherung des Lebensunterhalts und der Nachweis von ausreichendem Wohnraum sind grundsätzlich keine Voraussetzungen des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten. Dies folgt beim Elternnachzug aus § 36a Abs. 1 S. 2 Hs. 2 AufenthG, beim Kinder- und Ehegattennachzug bereits aus § 29 Abs. 2 S. 1 und 2 Nr. 2 AufenthG (vgl. auch BT-Drs. 19/2438, S. 22). Es ist bleibt jedoch zu beachten, dass dies beim Kinder- und Ehegattennachzug nur gilt, wenn die Herstellung der familiären Lebensgemeinschaft nicht in einem Drittstaat (außerhalb der EU), zu dem besondere Bindungen bestehen, möglich ist. Denn § 36a Abs. 5 AufenthG schließt nur die Anwendbarkeit der Dreimonatsfrist (§ 29 Abs. 2 S. 2 Nr. 1 AufenthG) aus, nicht aber die Voraussetzung des § 29 Abs. 2 S. 2 Nr. 2 AufenthG (vgl. hierzu auch VG Berlin, Urteil vom 31.08.2023 - 24 K 55/23 V - asyl.net: M31871). Besteht eine besondere Bindung zu einem Drittstaat, kann weiterhin im Rahmen des Ermessens von der Lebensunterhaltssicherung und dem Wohnraumerfordernis abgesehen werden (§ 29 Abs. 2 S. 1 AufenthG).
Darüber hinaus kann der Nachweis der Lebensunterhaltssicherung und des ausreichenden Wohnraums als sogenannte Integrationsleistung bei der Auswahlentscheidung des 1.000er-Kontingents positiv berücksichtigt werden. Daneben gelten als positiv zu berücksichtigende Integrationsleistungen beispielsweise der Nachweis gesellschaftlichen Engagements, ehrenamtlicher Tätigkeiten oder besonderer Fortschritte beim Erwerb von Deutschkenntnissen aufseiten der in Deutschland lebenden, schutzberechtigten Person, sowie z.B. Kenntnisse der deutschen Sprache auf Seiten des nachzugswilligen Familienmitglieds.
Zu beachten ist in diesem Zusammenhang, dass auch Straftaten der in Deutschland lebenden, schutzberechtigten Person, welche unterhalb der Schwelle des § 36a Abs. 3 Nr. 2 AufenthG liegen (und somit keinen Ausschlussgrund für den Familiennachzug darstellen), trotzdem in die Ermessensentscheidung der Behörden einfließen sollen und somit negativ für das Begehren der nachzugswilligen Familienangehörigen berücksichtigt werden können.
Zudem wird jedoch von der Rechtsprechung inzwischen unterschiedlich beurteilt, inwieweit Integrationsleistungen bereits in der Ermessensbetätigung der Ausländerbehörde und Auslandsvertretung berücksichtigt werden dürfen (s. dazu Ausführungen im nachfolgenden Unterabschnitt).
Das monatliche Kontingent von 1.000 Visa wurde seit der Einführung des Gesetzes nur phasenweise ausgeschöpft:
August - Dezember 2018: 2.724 erteilte Visa
2019: 11.132 erteilte Visa
2020: 5.271 erteilte Visa
2021: 5.954 erteilte Visa
2022: 8.859 erteilte Visa
2023: 12.459 erteilte Visa
Erstes Halbjahr 2024: 6.230 erteilte Visa
(vgl. BT-Drucksache 20/12922 vom 12.09.2024)
Insgesamt wurden danach zwischen August 2018 und Juni 2024 insgesamt 52.629 Visa zum Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten erteilt. In dem Zeitraum hätten allerdings entsprechend des Gesetzes 71.000 Visa erteilt werden können. Das ergibt eine Diskrepanz von über 18.300 nicht erteilten Visa. Das Gesetz sieht jedoch keine Übertragbarkeit eines monatlichen Kontigents auf den Folgemonat vor.
Gleichzeitig habe es zur Mitte des Jahres 2023 gut 84.000 offene Terminanfragen zur Beantragung eines Visums zum Familiennachzug zum subsidiären Schutz gegeben (vgl. MiGAZIN vom 18.07.2023)
Die Wartezeiten auf einen Termin zur Beantragung eines Visums zum Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten betragen oftmals über ein Jahr, vgl. BT-Drucksache 20/9236 vom 9.11.2023 und BT-Drucksache 20/12922 vom 12.09.2024.
Einen Anspruch auf Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten hat der Gesetzgeber explizit ausgeschlossen (§ 36a Abs. 1 S. 3 AufenthG). Die Visumserteilung erfolgt im Zuge des Ermessens. Daraus folgt für die Antragstellenden ein subjektives Recht auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung entsprechend Sinn und Zweck des Gesetzes und unter Einhaltung der gesetzlichen Grenzen der Ermessensausübung, vgl. auch BVerwG, Urteil vom 17.12.2020 - 1 C 30.19 (Asylmagazin 4/2021, S. 135 ff.) - asyl.net: M29408, Rn. 48. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Erteilungsvoraussetzung des Vorliegens eines humanitären Grundes bereits dann erfüllt ist, wenn eines der Regelbeispiele des § 36a Abs. 2 AufenthG vorliegt, also z.B. wenn ein minderjähriges Kind von der Familientrennung betroffen ist oder wenn ein Ehepaar schon seit langer Zeit getrennt ist.
Inwieweit Integrationsleistungen bereits in der Ermessensbetätigung der Ausländerbehörde und Auslandsvertretung berücksichtigt werden dürfen und es somit ggf. zu einer Versagung des Visums vor Weiterleitung an das Bundesverwaltungsamt kommen kann, wird von der Rechtsprechung unterschiedlich beurteilt. Für einen eingeschränkten Ermessensspielraum, vgl. VG Berlin, Urteil vom 07.01.2022 - 38 K 380/21 V (Asylmagazin 9/2022, S. 327 ff.) - asyl.net: M30388 und VG Berlin, Urteil vom 31.08.2023 - 24 K 55/23 V - asyl.net: M31871. Für einen weiten Ermessensspielraum, vgl. VG Berlin, Urteil vom 21.06.2024, 9 K 353/23 V - asyl.net: M32708 (Berufungsverfahren anhängig am OVG Berlin-Brandenburg unter dem Aktenzeichen 3 B 19/24).
Beim Bundesverwaltungsamt spielen die Auswahl- und Gewichtigungskriterien (Zahl und Schwere der humanitären Gründe, Kindeswohl, Integrationsaspekte) entsprechend der bisherigen Anwendungspraxis des Gesetzes erst dann eine Rolle, wenn die Schwelle von 1.000 entscheidungsreifen Anträgen überschritten wird und das Bundesverwaltungsamt eine Auswahl- und Priorisierungsentscheidung treffen muss. Solange dem Bundesverwaltungsamt nicht mehr als 3.000 entscheidungsreife Vorgänge vorliegen, entscheide es jedoch nach Eingang des Vorgangs (vgl. Jutta Hermanns, Rechtliche Fallstricke – Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten, 12.11.2020, S. 3).
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