Voraussetzung für die Zusammenführung von Angehörigen im Rahmen der Dublin-III-VO ist zunächst, dass die Verordnung anwendbar ist, vgl. Art. 1, Art. 3 Abs. 1 Dublin-III-VO. Hierfür gelten folgende allgemeine Grundsätze:
Liegen diese Voraussetzungen vor, ist in einem nächsten Schritt zu klären, in welchem Verhältnis die asylsuchende Person (im Folgenden: nachziehende Person) zu dem Familienmitglied im anderen Mitgliedstaat (im Folgenden: Referenzperson) steht, mit dem sie eine Zusammenführung begehrt, und welchen Status im Verfahren bzw. welches Aufenthaltsrecht die Referenzperson in dem Mitgliedstaat hat. Anschließend ist die Zuständigkeit des Mitgliedstaats anhand der Kriterien der Dublin-III-VO zu prüfen.
Zur Klarstellung sei darauf hingewiesen, dass sich die vorliegenden Ausführungen nur auf die Konstellation beziehen, dass sich die Angehörigen, welche zusammengeführt werden möchten, in unterschiedlichen Mitgliedstaaten aufhalten.
Um zu bestimmen, wer im Rahmen der Verordnung zusammengeführt werden kann, ist es wichtig, zunächst die Begrifflichkeiten der Dublin-III-VO zu verstehen und die verwandtschaftliche Beziehung richtig einzuordnen. So ist im Rahmen der Dublin-III-VO zu unterscheiden zwischen
Als „Antragsteller“ bezeichnet die Verordnung eine drittstaatsangehörige (d.h. nicht staatsangehörige Person eines der Mitgliedstaaten der Verordnung) oder staatenlose Person, die auf dem Gebiet der Mitgliedstaaten einen Antrag auf internationalen Schutz (Asylantrag) gestellt hat, über den noch nicht endgültig entschieden wurde, vgl. Art. 2 Bst. a und c der Dublin-III-VO. In den nachfolgenden Ausführungen wird ein Antragsteller im Sinne der VO auch als asylsuchende bzw. schutzsuchende Person bezeichnet.
„Begünstigte internationalen Schutzes“ sind gemäß Art. 2 Bst. f Dublin-III-VO Drittstaatsangehörige oder Staatenlose, denen internationaler Schutz, also Flüchtlingsschutz oder subsidiärer Schutz im Sinne von Art. 2 Bst. a der Richtlinie 2011/95/EU zuerkannt wurde. Erfasst sind damit anerkannte Flüchtlinge und subsidiär Schutzberechtigte, nicht hingegen z.B. Personen mit nationalen Abschiebungsverboten. In den nachfolgenden Ausführungen wird eine solche Person auch als schutzberechtigte Person bezeichnet.
Soweit die Dublin-III-VO von „unbegleiteten Minderjährigen“ spricht, ist darunter jede drittstaatangehörige oder staatenlose Person zu verstehen, die unter 18 Jahre alt ist und ohne Begleitung eines für sie nach dem Recht oder den Gepflogenheiten des betreffenden Dublin Mitgliedstaates verantwortlichen Erwachsenen in das Hoheitsgebiet des Dublin Mitgliedstaates einreist, solange die Person sich nicht tatsächlich in der Obhut eines solchen Erwachsenen befindet, vgl. Art. 2 Bst. j Dublin-III-VO. Mit erfasst werden von diesem Begriff zudem minderjährige Personen, die nach Einreise in einen Dublin Mitgliedstaat dort ohne Begleitung zurückgelassen werden.
Die Gruppe der „Familienangehörigen“ ist im engeren Sinne zu verstehen und umfasst nach der Verordnung nur die Mitglieder der sogenannten Kernfamilie, vgl. Art. 2 Bst. g Dublin-III-VO, sofern diese bereits im Herkunftsland bestanden hat (Ausnahme: bei Anwendung von Art. 9 Dublin-III-VO, hierzu ausführlich nachstehend in den einzelnen Vorschriften).
Mitglieder der Kernfamilie sind im Einzelnen:
Als „Verwandte“ bezeichnet die Verordnung in Art. 2 Bst. h ausschließlich
Der Personenkreis der „Personen jeder verwandtschaftlichen Beziehung“ wie ihn Art. 17 Abs. 2 Dublin-III-VO benennt, ist nicht näher in den Bestimmungen der Verordnung definiert und kann daher neben Mitgliedern der Kernfamilie, Geschwistern und Verwandten zudem weitergehende Familienangehörige umfassen.
Nach diesen in der Dublin-III-VO aufgeführten familiären Beziehungen richtet sich, ob und unter welchen Voraussetzungen die Familienzusammenführung möglich ist. Im Nachfolgenden werden diese rechtlichen Möglichkeiten anhand der Zuständigkeitskriterien der Verordnung im Einzelnen erläutert.
Die Regelung nach Art. 9 Dublin-III-VO greift, wenn die nachziehende Person, die auf dem Gebiet der Mitgliedstaaten einen Asylantrag stellt, einen schutzberechtigten Familienangehörigen in einem anderen Mitgliedstaat hat, d.h. einen Familienangehörigen, der als Begünstigter internationalen Schutzes in einem anderen Mitgliedstaat ein Aufenthaltsrecht besitzt.
Der Mitgliedstaat, in dem sich der schutzberechtigte Familienangehörige aufhält, ist dann für die Durchführung des Asylverfahrens der schutzsuchenden Person zuständig, sofern ein solcher Wunsch schriftlich geäußert wird.
Die Regelung hat somit drei Voraussetzungen:
Reist mit der asylantragsstellenden Person auch eine minderjährige Person, welche der Definition eines Familienangehörigen gemäß Art. 2 Bst. g Dublin-III-VO entspricht, ist ihre Situation nach Maßgabe der Verordnung als untrennbar miteinander verbunden zu betrachten. Die Zuständigkeit obliegt in solchen Fällen demselben Mitgliedstaat, vgl. Art. 20 Abs. 3 Dublin-III-VO, soweit es dem Kindeswohl dient, welches als vorrangige Erwägung in allen Verfahren zur Bestimmung der Zuständigkeit zu berücksichtigen ist, vgl. Art. 6 Dublin-III-VO. Gleiches gilt für minderjährige Personen, welche nach der Einreise in das Gebiet der Mitgliedstaaten geboren werden.
Dem folgend ergeben sich nachfolgende Konstellationen einer Zusammenführung mit einer bereits schutzberechtigten Person:
Anders als in den meisten übrigen Regelungen der Verordnung ist es im Fall der Zusammenführung mit einer schutzberechtigten Person unerheblich, ob die Familieneinheit bereits im Herkunftsland bestanden hat (also z.B. ob die Ehegatten schon verheiratet waren), vgl. insoweit Wortlaut des Art. 9 Dublin-III-VO.
Liegen die oben genannten Voraussetzungen vor, legt die Verordnung den Mitgliedstaat, in welchem sich der schutzberechtigte Familienangehörige aufhält, verbindlich als zuständigen Mitgliedstaat fest. Dieser Staat muss die schutzsuchende Person aufnehmen, für ein Ermessen der Behörden ist hier kein Raum. Weitere Nachweise (etwa über die Lebensunterhaltssicherung oder über ausreichenden Wohnraum) sind nicht erforderlich.
Hinweis! Oftmals kommt in diesen Fällen auch eine Familienzusammenführung nach Maßgabe des AufenthG im Visumsverfahren in Betracht, vgl. Abschnitt Außerhalb Europas. Dies sollte in der Beratung geprüft und kann gegebenenfalls parallel in die Wege geleitet werden.
Sind die Voraussetzungen nicht erfüllt und auch keine anderweitigen Zuständigkeitskriterien zur Zusammenführung der Familie einschlägig, kann dennoch ein Übernahmeersuchen zur Zusammenführung im Rahmen des Ermessens auf Art. 17 Abs. 2 Dublin-III-VO gestützt werden (hierzu näher nachfolgend). Daher ist auch in solchen Fällen eine entsprechende Kontaktaufnahme mit den zuständigen Behörden ratsam.
Hat die nachziehende Person, die auf dem Gebiet der Mitgliedstaaten einen Asylantrag stellt, in einem anderen Mitgliedstaat eine familienangehörige Person (Referenzperson), die bereits einen Asylantrag gestellt hat, ohne dass darüber bislang entschieden wurde, ist dieser Mitgliedstaat auch für die Durchführung des Asylverfahrens der nachziehenden Person zuständig, vgl. Art. 10 Dublin-III-VO.
Der Wunsch zur Familienzusammenführung schriftlich durch die betroffenen Personen zum Ausdruck gebracht werden muss.
Die Regelung hat drei Voraussetzungen:
Die Referenzperson muss sich selbst noch zwischen Asylantragstellung und Erstentscheidung befinden. Von einer "Erstentscheidung in der Sache" ist nach Ansicht des Bundesamt für Migration und Flüchtlinge bereits mit Zustellung der ersten Behördenentscheidung auszugehen. Die ständige Rechtsprechung geht hingegen einheitlich davon aus, dass eine "Erstentscheidung in der Sache" erst mit Rechtskraft, also erst dann vorliegt, wenn über einen eingelegten Rechtsbehelf endgültig entschieden wurde (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 3.09.2019 - OVG 6 N 58.19, sowie OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 17.8.2021 – 1 LA 43/21 – asyl.net: M29952).
Hinweis! Bei Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots durch das BAMF sollte daher stets auch eine etwaige Familienzusammenführung bedacht werden, wenn über das Einlegen von Rechtsmitteln nachgedacht wird.
Auch nach Maßgabe des Art. 10 Dublin-III-VO können ausschließlich Mitglieder der Kernfamilie von dieser Möglichkeit des Nachzugs Gebrauch machen. Anders als bei Art. 9 Dublin-III-VO ist im Rahmen von Art. 10 Dublin-III-VO zudem erforderlich, dass die familiäre Bindung schon im Herkunftsland bestanden hat. Die im Rahmen von Art. 9 Dublin-III-VO getroffenen Ausführungen zu miteingereisten, minderjährigen Personen und der Betrachtung des Kindeswohls sind entsprechend zu berücksichtigten, vgl. Abschnitt Zusammenführung mit einer schutzberechtigten Person, Art. 9 Dublin-III-VO.
Dem folgend ergeben sich nachfolgende Konstellationen einer Zusammenführung mit einer bereits schutzberechtigten Person:
Erfüllen die Betroffenen die vorbezeichneten Voraussetzungen, bestimmt auch in diesem Fall die Verordnung den Mitgliedstaat, in welchem sich der Familienangehörige (der bereits zuvor einen Asylantrag gestellt hat) aufhält, verbindlich als zuständigen Mitgliedstaat. Für ein Ermessen der Behörden ist kein Raum. Der Nachweis der Lebensunterhaltssicherung oder ausreichenden Wohnraums muss nicht erbracht werden.
Sind die Voraussetzungen nicht erfüllt, weil z.B. die Familie im Herkunftsland noch nicht bestand und auch keine anderweitigen Zuständigkeitskriterien zur Zusammenführung der Familie einschlägig, kann dennoch ein Übernahmeersuchen zur Zusammenführung im Rahmen des Ermessens auf Art. 17 Abs. 2 Dublin-III-VO gestützt werden (hierzu näher nachfolgend). Daher ist auch in solchen Fällen eine entsprechende Kontaktaufnahme mit den zuständigen Behörden ratsam.
Für die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats bei nachziehenden unbegleiteten minderjährigen Personen enthält Art. 8 Dublin-III-VO eine Spezialregelung, welche die Anwendung der Art. 9 und 10 Dublin-III-VO ausschließt.
Achtung! Hiervon ist die Konstellation zu unterscheiden, bei der eine Zusammenführung zum unbegleiteten Minderjährigen begehrt wird. Diese Fälle unterfallen weiter der Anwendung der Art. 9 und Art. 10 Dublin III VO.
Befindet sich eine unbegleitete, minderjährige Person auf dem Gebiet der Mitgliedstaaten, so ist hinsichtlich der Durchführung des Asylverfahrens der Mitgliedstaat zuständig, in welchem sich ein Familienangehöriger (Eltern) oder eines der Geschwister rechtmäßig aufhalten, sofern dies dem Wohl des Kindes dient, vgl. Art. 8 Abs. 1 Satz 1 Dublin-III-VO.
Als "unbegleitet" gilt diejenige minderjährige Person, die nach dem Recht des Mitgliestaates, in dem sie sich befindet, nicht von einer sorgeberechtigten Person begleitet wird, vgl. Art. 2 Bst. j Dublin-III-VO. Hiervon abzugrenzen sind Personen, denen lediglich die Vormundschaft für das minderjährige Kind übertragen wurde. Ihre Einsetzung (Bestallung) führt nicht dazu, dass das minderjähige Kind nicht mehr als unbegleitet gilt, vgl. VG Münster, Beschluss vom 20.12.2018 - 2 L 989/18.A - asyl.net: M26868.
Unbegleiteten, minderjährigen Personen gleichgestellt werden verheiratete, minderjährige Personen, soweit sich ihr Ehepartner nicht rechtmäßig im Gebiet der Mitgliedstaaten aufhält, vgl. Art. 8 Abs. 1 Satz 2 Dublin-III-VO. In diesem Fall bestimmt sich die Zuständigkeit nach dem Aufenthaltsort der Eltern, eines anderen Erwachsenen - der nach dem Recht oder den Gepflogenheiten des Mitgliedstaates für das Kind zuständig ist – oder eines seiner Geschwister.
Halten sich Verwandte einer minderjährigen, unbegleiteten Person in einem anderen Mitgliedstaat rechtmäßig auf und wurde im Rahmen einer Einzelfallprüfung festgestellt, dass diese in der Lage sind, für das Kind zu sorgen, kommt eine Familienzusammenführung auch mit einer Person dieses Kreises in Betracht, soweit dies dem Wohl des Kindes dient, vgl. Art. 8 Abs. 2 Dublin III VO.
Befinden sich Personen der verschiedenen vorbezeichneten familiären Beziehungen in unterschiedlichen Mitgliedstaaten, ist im Rahmen der Zuständigkeit und damit auch für die Familienzusammenführung das Wohl des Kindes maßgeblich, vgl. Art. 8 Abs. 3 Dublin III VO.
Wie die bisherigen Ausführungen verdeutlichen, bestimmt sich – anders als bei erwachsenen Asylsuchenden - die Zuständigkeit im Falle einer unbegleiteten minderjährigen Person unabhängig von einem Wunsch, der kundgetan werden muss, sondern danach, ob es dem Wohl des Kindes entspricht. Die Ansichten des Kindes sind allerdings im Rahmen der Kindeswohlprüfung zu berücksichtigen, vgl. Art. 6 Abs. 3 Bst. d Dublin III VO. Insoweit sind die Mitgliedstaaten zu einer verstärkten Zusammenarbeit verpflichtet, um auf eine Familienzusammenführung hinzuwirken, vgl. Art. 8 Dublin III Verordnung und Art. 1 Nr. 7 Durchführungsverordnung zur Dublin III VO.
Auch wenn der Wunsch einer Familienzusammenführung in diesen Fällen nicht schriftlich bekundet werden muss, ist zu empfehlen, ein entsprechendes Schreiben an die zuständige Behörde zu richten bzw. im Rahmen des persönlichen Gesprächs zu betonen, dass eine Familienzusammenführung begehrt wird, um sicherzustellen, dass die Behörden von Angehörigen in einem anderen Mitgliedstaat Kenntnis erlangen.
Liegen der zuständigen Behörde entsprechende Erkenntnisse vor, dass sich die Eltern, Geschwister oder Verwandte einer unbegleiteten minderjährigen Person in einem anderen Mitgliedstaat aufhalten, tritt sie mit dem betreffenden Mitgliedstaat in Kontakt, um
Dies gilt auch, wenn sich verschiedene Angehörige des vorbezeichneten Personenkreises in unterschiedlichen Mitgliedstaaten aufhalten. Hier dient der Informationsaustausch auch der Feststellung, in wessen Obhut die minderjährige Person gegeben werden sollte.
Von grundsätzlicher Bedeutung ist in allen Fällen der Familienzusammenführung ausgehend von minderjährigen Asylsuchenden die vorrangige Achtung des Kindeswohls, welches im Einklang mit den Regelungen der UN Kinderrechtskonvention (KRK) und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GR-Ch) Berücksichtigung finden soll, vgl. Erwägungsgrund 13 der Dublin III VO.
Wie der Begriff des Kindeswohl genau zu definieren ist, ist weder durch Art. 3 KRK, noch durch Art. 24 GR-Ch näher bestimmt. Auch auf nationaler Ebene findet sich diesbezüglich keine klärende gesetzliche Regelung.
Die Dublin III Verordnung selbst trägt dem Grundsatz des Kindeswohls in Art. 6 Abs. 1 Rechnung und stellt das Kindeswohl in allen Verfahren, soweit minderjährige Personen betroffen sind, als vorrangige Erwägung heraus. Art. 6 Abs. 3 Dublin III VO benennt zudem Faktoren, die bei einer Würdigung des Kindeswohls berücksichtigt werden sollen:
Da eine Familienzusammenführung dann nicht in Betracht kommt, wenn diese nicht dem Kindeswohl dienen würde, bedarf es einer Prüfung des Kindeswohls im Einzelfalls durch die zuständigen Behörden, wobei die minderjährige Person, seine Familienangehörigen, seine Betreuer, der Vormund und Jugendschutzbehörden an beiden Aufenthaltsorten der Familie bei der genauen Bestimmung bestmöglich eingebunden werden sollten. Liegen Hinweise auf mögliche Kindeswohlgefährdungen vor oder sonstige Gründe, die einer Zusammenführung entgegen stehen, sollten diese sobald wie möglich den zuständigen Behörden mitgeteilt werden.
Einen Kontakt bzw. Informationsaustausch hat die mit der Durchführung der Dublin III Verordnung zuständige Behörde, in Deutschland das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) zu ermöglichen, vgl. Art. 1 Nr. 7 Durchführungsverordnung zur Dublin III VO.
Für weiterführende Fragen und Probleme ist es hilfreich, sich an den Bundesfachverband für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge e.V. zu wenden, Kontakt unter http://www.b-umf.de.
Im Einzelnen sieht Art. 16 Abs. 1 Dublin III VO vor, dass eine auf dem Gebiet der Mitgliedstaaten asylsuchende Person mit ihrem Kind, einem Geschwister oder Elternteil, das bzw. der sich in einem anderen Mitgliedstaat rechtmäßig aufhält, zusammengeführt werden soll, wenn eines dieser Familienmitglieder auf die Unterstützung des anderen Familienmitglieds angewiesen ist, die familiäre Bindung bereits im Herkunftsland bestanden hat und das Familienmitglied tatsächlich in der Lage ist, die abhängige Person zu unterstützen. Die betroffenen Personen müssen einen diesbezüglichen Wunsch schriftlich äußern.
Der Wortlaut verdeutlicht, dass es sich hierbei um eine sog. Soll-Vorschrift handelt. Dies bedeutet, dass bei Vorliegen der Voraussetzungen im Regelfall eine Zusammenführung zu erfolgen hat. Nur in Ausnahmefällen kann sie abgelehnt werden, wenn die Voraussetzungen erfüllt sind.
Zum begünstigten Personenkreis gehören dem Wortlaut des Art. 16 Abs. 1 Dublin III VO folgend auch volljährige und verheiratete Kinder. Kritisch ist jedoch zu betrachten, dass durch die Vorschrift nur bestimmte familiäre Beziehungen aufgezählt werden. Im Fall anderer Personengruppen kommt dennoch die Möglichkeit einer Zusammenführung im Rahmen des Art. 17 Abs. 2 Dublin III VO in Betracht (hierzu näher nachfolgend), sofern nicht bereits vorrangige Zuständigkeitskriterien einschlägig sind.
Die Notwendigkeit der Unterstützung durch ein Familienmitglied kann sich im Rahmen des Art. 16 Dublin III VO auf beiden Seiten ergeben. Entscheidend ist, dass aufgrund eines der nachfolgenden (abschließenden) Gründe ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen der asylsuchenden Person und dem Familienmitglied besteht:
Die Notwendigkeit der Unterstützung muss zudem hinreichend nachgewiesen werden. Weiter ist es wichtig darzulegen, dass das andere Familienmitglied in der Lage ist, die notwendige Unterstützung zu leisten. Hierfür ist es hilfreich, dem Antrag entsprechende Nachweise beizufügen (z.B. aussagekräftige ärztliche Stellungnahmen, Angaben ggf. zur Berufstätigkeit, schriftlicher Wunsch die Unterstützung leisten zu wollen, Nachweise sozialer oder psychologischer Eignung, Angaben zu bereits geleisteter Unterstützung), vgl. hierzu Anhang VII der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 118/2014 vom 30.01.2014.
Anders als in den Fällen der Art. 8, 9 und 10 Dublin III VO, welche für die Möglichkeit einer Familienzusammenführung darauf abstellen, dass die jeweiligen Voraussetzungen bereits bei erstmaliger Asylantragstellung der die Überstellung begehrenden Person vorliegen (vgl. Art. 7 Abs. 2 Dublin III VO), kann das Abhängigkeitsverhältnis im vorliegenden Fall des Art. 16 Dublin III VO auch nach Asylantragstellung entstehen.
Hinsichtlich des Erfordernisses, dass die familiäre Bindung bereits im Herkunftsland bestanden haben muss und den diesbezüglichen Bedenken, ob eine solche Voraussetzung menschenrechtskonform ist, siehe Zusammenführung mit einer schutzsuchenden Person. Jedenfalls bleibt die Möglichkeit des Art. 17 (2) Dublin III-VO.
In den Fällen, in denen sich die abhängige Person und ihre Familienmitglieder in demselben Staat befinden, soll dieser in der Regel zuständig sein (es soll also insbesondere eine Familientrennung durch Überstellung in einen anderen Staat vermieden werden; Art. 16 Abs. 1 Dublin III VO). Wenn sie sich in unterschiedlichen Staaten aufhalten, wird der Staat zuständig, in dem sich Familienmitglieder schon rechtmäßig aufhalten. Falls die abhängige Person aber längerfristig reiseunfähig ist, wird der Staat zuständig, in dem sie sich aufhält. In dieser Konstellation trifft den zuständigen Staat dann allerdings keine Verpflichtung, die Familienmitglieder aufzunehmen, vgl. Art.16 Abs. 2 Dublin III VO.
Was im Einzelfall als „längerfristig“ zu verstehen ist, lässt die Verordnung offen. Als Richtwert wird in der Literatur ein Zeitraum von 6 Monaten vertreten.
Wie bereits Erwägungsgrund 17 der Verordnung erkennen lässt, sollen die Mitgliedstaaten die Möglichkeit haben, aus humanitären Gründen und zur Vermeidung von Härtefällen von der strengen Anwendung der Zuständigkeitskriterien (z.B. Ersteinreisekriterium) abweichen zu können. Unter diesen Gesichtspunkten lässt sich eine Familienzusammenführung daher ebenso aus Art. 17 Abs. 2 Dublin III VO herleiten.
Kommt eine Familienzusammenführung nach Maßgabe der Regelungen der Art. 8, 9, 10 oder 16 Dublin III VO nicht in Betracht oder scheitert deren Anwendung im Einzelfall aus verfahrensrechtlichen Gründen wie etwa bei Fristablauf (hierzu näher Gang des Verfahrens) eröffnet schließlich Art. 17 Dublin III VO die Möglichkeit, Personen jeder verwandtschaftlichen Beziehung aus humanitären Gründen, die sich insbesondere aus dem familiären oder kulturellen Kontext ergeben, zusammenzuführen.
Damit wird auch Personen, welche nach der Begrifflichkeit der Verordnung nicht zum Kreis der Kernfamilie, Geschwistern oder Verwandten gehören oder aus anderen Gründen die Voraussetzungen der Art. 8 bis 10 und 16 Dublin III VO nicht erfüllen, die Möglichkeit einer Familienzusammenführung eingeräumt.
Da für ein Aufnahmegesuch gemäß Art. 17 Abs. 2 Dublin III VO keine Fristen durch die Verordnung vorgegeben sind, kann es an den anderen Mitgliedstaat gerichtet werden, solang keine abschließende Entscheidung hinsichtlich des Asylantrags der betroffenen Person durch den um Aufnahme ersuchenden Mitgliedstaat getroffen wurde.
Wichtig ist in diesem Zusammenhang jedoch der Hinweis, dass es allein im Ermessen eines Mitgliedstaates liegt, ob er auf der Grundlage des Art. 17 Dublin III VO überhaupt ein Aufnahmegesuch an den anderen Mitgliedstaat richten wird. Auch der um Aufnahme ersuchte Mitgliedstaat kann in diesen Fällen nach Ermessen entscheiden, ob er der Familienzusammenführung zustimmen will oder nicht. Daher muss ein Antrag auf Familienzusammenführung durch die asylsuchende Person ausführlich begründet und mit entsprechenden Nachweisen untermauert werden, um so die zuständigen Behörden beider beteiligter Staaten zur Zustimmung zu bewegen.
Für den Umgang in der Praxis sei noch darauf hingewiesen, dass jedenfalls in Fällen, in denen nicht die Kernfamilie betroffen ist, eher zurückhaltend von der Vorschrift durch die Behörden Gebrauch gemacht wird. Unter Umständen sollte mit den Betroffenen daher die Möglichkeit des Relocation in der Beratung erörtert werden.
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