Sonderfall: Geschwisternachzug

In der Beratungspraxis erlangen wiederholt Konstellationen, in denen Eltern zu unbegleiteten, minderjährigen Schutzberechtigten mit minderjährigen Geschwistern des Schutzberechtigten gemeinsam nachziehen möchten, große Bedeutung.

Die Eltern erhalten dabei unter Verzicht auf den Nachweis ausreichenden Wohnraums und der Lebensunterhaltssicherung ein Visum nach Maßgabe der §§ 6 Abs. 3 i.V.m. 36 Abs. 1 AufenthG.

Der nach dem AufenthG bestehende Nachzugsanspruch entspricht den Vorgaben des Art. 10 Abs. 3 Bst. a FamZ-RL und betrifft nach seinem Wortlaut ausschließlich Verwandte des unbegleiteten minderjährigen Schutzberechtigen in gerader aufsteigender Linie ersten Grades (Eltern).

Einen Nachzugsanspruch für Geschwister in dieser Form wird durch die FamZ-RL nicht festgeschrieben. Ihr Nachzugsrecht leitet sich nach Ansicht des deutschen Gesetzgebers von den nachziehenden Eltern ab und ist an den Voraussetzungen der § 32 AufenthG (Kindernachzug) zu messen. Darüber hinaus kommt ein Nachzug zum in Deutschland aufhältigen Geschwisterkind nur nach Maßgabe des § 36 Abs. 2 AufenthG (sonstige Familienangehörige) in Betracht. Dieser Sichtweise folgt auch das Auswärtige Amt, was für die Entscheidungspraxis der Auslandsvertretungen maßgeblich ist, vgl. Erlass/Behördliche Mitteilung des Auswärtigen Amtes vom 20.03.2017 - 508-3-543.53/2 - asyl.net: M24862.

Dabei steht dem Nachzugsrecht des Geschwisterkindes nach § 32 AufenthG nach einheitlicher Rechtsprechung grundsätzlich nicht entgegen, dass die Eltern in der hier beschriebenen Konstellation „nur“ ein befristetes Visum nach § 6 Abs. 3 i.V.m. 36 Abs. 1 AufenthG zum Zeitpunkt der Visumbeantragung besitzen und gemeinsam mit dem minderjährigen Geschwisterkind ins Bundesgebiet einreisen möchten. Denn bereits die Erteilung der elterlichen Visa gemäß § 6 Abs. 3 S. 2 AufenthG richtet sich nach den Vorschriften für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. Beabsichtigen die Eltern mit dem nachzugswilligen Geschwisterkind in familiärer Gemeinschaft zu leben, wäre es reiner Formalismus, die sich an das Visum anschließende Erteilung der Aufenthaltserlaubnis abzuwarten, vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 22.12.2016 – OVG 3 S 106.16, Rn. 3, asyl.net: M24564;  OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 22.12.2016 – OVG 3 S 98.16, Rn.3, asyl.net: M24860; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 21.12.2015 – OVG 3 S 95.15, Rn.2; so auch Nr. 29.1.2.2 der AVwV-AufenthG.

Probleme hinsichtlich des Geschwisternachzugs bereitet, dass in der behördlichen Praxis ein Visum häufig aus Gründen mangelnder Lebensunterhaltssicherung und fehlendem ausreichenden Wohnraums abgelehnt wird.

Denn sowohl der Kindernachzug (§ 32 AufenthG) als auch ein Nachzug im Rahmen des § 36 Abs. 2 AufenthG verlangen nach der Systematik des AufenthG grundsätzlich die Erfüllung beider Voraussetzungen. Denn da die nachzugsberechtigten Eltern nicht selbst über ein Aufenthaltsrecht nach Maßgabe des § 29 Abs. 2 Satz 1 AufenthG verfügen, findet die Privilegierung des § 29 Abs. 2 Satz 2 AufenthG (Absehen vom Erfordernis der Lebensunterhaltssicherung und ausreichendem Wohnraum) beim Geschwisternachzug in dieser Konstellation keine Anwendung. Daher steht es im Ermessen der zuständigen Ausländerbehörde und Auslandsvertretung, vom Erfordernis des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG abzusehen, welches in der derzeitigen Behördenpraxis oftmals zu Ungunsten der antragstellenden Geschwister ausgeübt wird.

Ein Absehen vom Erfordernis der eigenständigen Sicherung des Lebensunterhaltes kann gerechtfertigt sein, wenn besondere, atypische Umstände bestehen oder aber wenn aus Gründen des höherrangiges Rechts, wie z.B. dem verfassungs- und konventionsrechtlichen Schutz der Familie (Art. 6 Abs. 1 GG, Art. 8 EMRK, Art. 7 GR-Ch) eine Abweichung geboten ist (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 22.12.2023 - 3 S 117/23 - asyl.net: M32101). Die Feststellung eines derartigen Ausnahmefalles beruht auf einer wertenden Gesamtschau der Umstände des Einzelfalls.

Ein Verzicht auf das Erfordernis ausreichenden Wohnraums ist nach Ansicht des Auswärtigen Amtes weder im Rahmen des Ermessens noch durch die Annahme eines atypischen Falles gerechtfertigt, vgl. Erlass/Behördliche Mitteilung des Auswärtigen Amtes vom 20.03.2017 - 508-3-543.53/2 - asyl.net: M24862. Diese Ansicht bestätigt auch die Rechtsprechung (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 5.12.2018, – 3 B 8/18; bestätigt durch BVerwG, Beschluss vom 04.07.2019 - 1 B 26.19 - asyl.net: M27529; VG Berlin, Urteil vom 30.01.2019 - 20 K 538.17 V - asyl.net: M27126; Urteil vom 01.02.2019 - 15 K 936.17 V - asyl.net: M27094; Beschluss vom 28.12.2023 - 38 L 510/23 V).

Der EuGH entschied hingegen in einem Urteil vom 30.01.2024 (EuGH, Urteil vom 30.01.2024 - C-560/20 - CR, GF, TY gg. Österreich - asyl.net: M32150), dass auch volljährigen Geschwistern eines als Flüchtling anerkannten Kindes der Familiennachzug - zusammen mit den Eltern - zu ermöglichen ist, wenn das Geschwisterkind aufgrund einer schweren Krankheit vollständig und dauerhaft auf die Unterstützung der Eltern angewiesen ist. Denn andernfalls würde dem Kind mit Flüchtlingsanerkennung faktisch das Recht auf Familiennachzug genommen werden, da es den Eltern nicht möglich wäre, ohne ihr volljähriges, vollständig von ihnen abhängiges Kind nachzuziehen. Es dürften in einem solchen Fall auch weder ausreichend Wohnraum noch Mittel zur Lebensunterhaltsicherung zur Voraussetzung für den Familiennachzug gemacht werden.

In den Bundesländern Berlin und Schleswig-Holstein gilt grundsätzlich eine günstigere Rechtsauslegung beim Geschwisternachzug minderjähriger Geschwister, so dass die Ausländerbehörden hier dem Geschwisternachzug regelmäßig unabhängig von ausreichendem Wohnraum und Lebensunterhaltsicherung ihre Zustimmung erteilen, sofern beide Elternteile zusammen zum Kind nach Deutschland nachziehen (vgl. Sophia Eckert, „Der Geschwisternachzug", Asylmagazin 6-7/2020, S. 195; Landesamt für Einwanderung, Verfahrenshinweise zum Aufenthalt in Berlin (VAB), Abschnitt 32.1.3.; Integrationsministerium Schleswig-Holstein, Erlass/Behördliche Mitteilung vom 09.03.2020 - IV 203-7587/2020 - asyl.net: M28179).

Der UNHCR hält eine zeitgleiche Visaerteilung für minderjährige Geschwister, welche mit den Eltern im Familienverbund leben und den gemeinsamen Nachzug zum schutzberechtigen Geschwisterkind nach Deutschland begehren, unter Verzicht auf das Erfordernis von Lebensunterhaltssicherung und ausreichendem Wohnraum für geboten, vgl. UNHCR, „Familienzusammenführung zu Personen mit internationalem Schutz - Rechtliche Probleme und deren praktische Auswirkungen", Asylmagazin 4/2017, S. 132-137.

Hinweis für die Praxis! Sollte in der Beratungssituation sichtbar werden, dass die beteiligten Behörden entsprechende Nachweise zur Lebensunterhaltssicherung und ausreichenden Wohnraums fordern, sollte mit den Beteiligten auch alternativ die Möglichkeit eines schrittweisen Nachzugs der Angehörigen durchdacht werden. Dies bedeutet, das zunächst nur ein Elternteil zur unbegleiteten, minderjährigen Person nach Deutschland reist, hier im Rahmen eines eigenen Asylverfahrens (in der Regel durch einen Antrag auf Familienasyl/Familienschutz, § 26 Abs. 3 i.V.m. Abs. 5 AsylG) ein den Nachzug ermöglichendes Aufenthaltsrecht erwirbt und dem im Ausland verbliebenen Kind so die Möglichkeit einer Einreise im Wege des vereinfachten Familiennachzugs (Kindernachzug) eröffnet.

Zur Erläuterung dieses Vorgehens empfehlen sich die Arbeitshilfe des Flüchtlingsrat Baden-Württemberg, Hinweise zum Familienasyl und „Kaskadennachzug" (Stand: 28.02.2018), sowie die Arbeitshilfe des Paritätischen Gesamtverbandes, GGUA, Familienasyl und internationaler Schutz für Familienangehörige im Kontext des Familiennachzuges (Stand: April 2018).

Beachtet werden sollte, dass soweit der Nachzug eines oder beider Elterteile zum als Flüchtling anerkannten Kind erst nach Eintritt der Volljährigkeit des Kindes erfolgt, die Möglichkeit entfällt, durch einen unverzüglichen Antrag auf „Familienasyl" ebenfalls den (abgeleiteten) Flüchtlingsstatus zu erhalten, da ein solcher Antrag gemäß § 26 AsylG nur so lange möglich ist, wie das hier lebende, schutzberechtigte Kind minderjährig ist. Für die Frage der Minderjährigkeit beim Familienasyl ist auf den Zeitpunkt der formlosen Asylantragsstellung der Eltern abzustellen, vgl. EuGH, Urteil vom 09.09.2021 - C-768/19 SE gg. Deutschland - asyl.net: M29994.

Abschließend sei darauf hingewiesen, dass im Fall, dass ein Geschwisternachzug auf Grundlage des § 36 Abs. 2 AufenthG erfolgen soll, das Vorliegen einer außergewöhnlichen Härte aus der Trennung des in Deutschland aufhältigen Kindes zu dem nachzugswilligen Geschwisterkind folgen muss. Die Tatsache, dass der zeitgleich beantragte Elternnachzug zu einer Trennung von den Eltern und dem alleinigen Verbleib des Geschwisterkindes im Ausland führt, begründet nach Ansicht des Auswärtigen Amtes keine außergewöhnliche Härte zwischen den Geschwistern (Erlass/Behördliche Mitteilung des Auswärtigen Amtes vom 20.03.2017 - 508-3-543.53/2 - asyl.net: M24862).