Sonderfall: Geschwisternachzug

In der Beratungspraxis geht es oftmals um Nachzugskonstellationen, in denen Eltern zu unbegleiteten, minderjährigen Schutzberechtigten gemeinsam mit den minderjährigen Geschwistern des Schutzberechtigten nachziehen möchten.

Im Aufenthaltsgesetz ist der Nachzug von Geschwistern zu Geschwistern nicht speziell geregelt. Auch die minderjährigen Geschwister von unbegleiteten minderjährigen Schutzberechtigten fallen somit unter die Kategorie der „sonstigen Familienangehörigen“ gem. § 36 Abs. 2 AufenthG. Der Nachzug von „sonstigen Familienangehörigen“ ist jedoch an sehr hohe Voraussetzungen geknüpft, vgl. Nachzug sonstiger Familienangehöriger.

Auch die Familienzusammenführungsrichtlinie (FamZ-RL) enthält keine gesonderte Regelung für den Nachzug von Geschwistern. So privilegiert Art. 10 Abs. 3 a) FamZ-RL ausschließlich Verwandte des unbegleiteten minderjährigen Schutzberechtigen in gerader aufsteigender Linie ersten Grades (Eltern).
 

Möglichkeit des Nachzugs der minderjährigen Geschwister gemeinsam mit den Eltern

Die Eltern von minderjährigen unbegleiteten Kindern mit Schutzstatus (Resettlement, Asyl, GFK oder subsidiärem Schutz) erhalten im Rahmen des Elternnachzug Visa gem. §§ 6 Abs. 3 i.V.m. 36 Abs. 1 AufenthG (bzw. §§ 6 Abs. 3 i.V.m. 36a Abs. 1 S. 2 AufenthG). Auf die Voraussetzungen der Lebensunterhaltssicherung und dem Nachweis von ausreichendem Wohnraum wird dabei regelmäßig verzichtet, vgl. dazu Nachzug der Eltern zu unbegleiteten Minderjährigen bzw. Sonderfall: subsidiär Schutzberechtigte ›› Erteilungsvoraussetzungen.

Neben der Möglichkeit des Nachzugs nach § 36 Abs. 2 AufenthG („sonstige Familienangehörige“), kann ein Nachzugsrecht für die Geschwister aber auch von den nachziehenden Eltern abgeleitet werden, wenn diese gemeinsam mit den Geschwistern einreisen. Der Geschwisternachzug ist dann an den Voraussetzungen des Kindernachzugs nach § 32 AufenthG zu messen.

Dabei steht dem Nachzugsrecht des Geschwisterkindes nach § 32 AufenthG nach einheitlicher Rechtsprechung grundsätzlich nicht entgegen, dass die Eltern in der hier beschriebenen Konstellation zum Zeitpunkt der Visumbeantragung selbst „nur“ ein befristetes Visum nach § 6 Abs. 3 i.V.m. 36 Abs. 1 AufenthG besitzen. Denn bereits die Erteilung der elterlichen Visa gemäß § 6 Abs. 3 S. 2 AufenthG richtet sich nach den Vorschriften für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. Beabsichtigen die Eltern mit dem nachzugswilligen Geschwisterkind in familiärer Gemeinschaft zu leben, wäre es reiner Formalismus, die sich an das Visum anschließende Erteilung der Aufenthaltserlaubnis abzuwarten, vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 22.12.2016 – OVG 3 S 106.16 - asyl.net: M24564;  OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 22.12.2016 – OVG 3 S 98.16 - asyl.net: M24860; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 19.12.2018 - 3 S 98.18 - Asylmagazin 1-2/2019, S. 38 f. - asyl.net: M26883; so auch Nr. 29.1.2.2 der AVwV-AufenthG.

Probleme beim Geschwisternachzug bereitet hingegen, dass der Visumantrag des Geschwisterkindes häufig aus Gründen mangelnder Lebensunterhaltssicherung und fehlendem ausreichenden Wohnraums abgelehnt wird (vgl. auch Sophia Eckert, „Der Geschwisternachzug", Asylmagazin 6-7/2020, S. 189ff)

Denn da die nachzugsberechtigten Eltern selbst (noch) keinen Schutzstatus zugesprochen bekommen haben, verfügen sie nicht über einen Aufenthaltstitel nach Maßgabe des § 29 Abs. 2 AufenthG. Somit findet die Privilegierung des § 29 Abs. 2 AufenthG (Absehen vom Erfordernis der Lebensunterhaltssicherung und ausreichendem Wohnraum) beim Geschwisternachzug in dieser Konstellation keine Anwendung. Daher steht es im Ermessen der zuständigen Ausländerbehörde und Auslandsvertretung, vom Erfordernis der Lebensunterhaltsicherung gem. § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG abzusehen, welches oftmals zu Ungunsten der antragstellenden Geschwister ausgeübt wird.

Ein Absehen vom Erfordernis der Sicherung des Lebensunterhaltes kann aber gerechtfertigt sein, wenn besondere, atypische Umstände bestehen oder aber wenn aus Gründen des höherrangiges Rechts, wie z.B. dem verfassungs- und konventionsrechtlichen Schutz der Familie (Art. 6 Abs. 1 GG, Art. 8 EMRK, Art. 7 GR-Ch) eine Abweichung geboten ist (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 22.12.2023 - 3 S 117/23 - asyl.net: M32101; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 10.06.2024 - 3 S 32/24 - asyl.net: M32475).

Ein Verzicht auf das Erfordernis ausreichenden Wohnraums ist nach Ansicht des Auswärtigen Amtes weder im Rahmen des Ermessens noch durch die Annahme eines atypischen Falles gerechtfertigt, vgl. Erlass/Behördliche Mitteilung des Auswärtigen Amtes vom 20.03.2017 - 508-3-543.53/2 - asyl.net: M24862. Diese Ansicht bestätigt bisher auch die deutsche Rechtsprechung (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 5.12.2018, – 3 B 8/18; bestätigt durch BVerwG, Beschluss vom 04.07.2019 - 1 B 26.19 - asyl.net: M27529; VG Berlin, Urteil vom 30.01.2019 - 20 K 538.17 V - asyl.net: M27126VG Berlin, Urteil vom 01.02.2019 - 15 K 936.17 V - Asylmagazin 4/2019, S. 119 ff. - asyl.net: M27094; VG Berlin, Beschluss vom 28.12.2023 - 38 L 510/23 V - asyl.net: M32082).

Der EuGH entschied hingegen in einem Urteil vom 30.01.2024 (EuGH, Urteil vom 30.01.2024 - C-560/20 - CR, GF, TY gg. Österreich - asyl.net: M32150), dass selbst volljährigen Geschwistern eines Kindes mit Flüchtlingsanerkennung der Familiennachzug - zusammen mit den Eltern - zu ermöglichen ist, wenn das Geschwisterkind aufgrund einer schweren Krankheit vollständig und dauerhaft auf die Unterstützung der Eltern angewiesen ist. Denn andernfalls würde dem Kind mit Flüchtlingsanerkennung faktisch das Recht auf Familiennachzug genommen werden, da es den Eltern nicht möglich wäre, ohne ihr volljähriges, vollständig von ihnen abhängiges Kind nachzuziehen. Es dürften in einem solchen Fall auch weder ausreichend Wohnraum noch Mittel zur Lebensunterhaltsicherung zur Voraussetzung für den Familiennachzug gemacht werden.

Es stellt sich im Zusammenhang mit diesem EuGH-Urteil die Frage, ob diese Grundsätze auch auf den Nachzug von minderjährigen Geschwistern übertragbar sind. Minderjährige Geschwisterkinder sind bereits aufgrund ihrer Minderjährigkeit fürsorgebedürftig. Wenn die Eltern jedoch ihre minderjährigen Kinder im Herkunftsland bzw. Drittstaat zurücklassen müssten, um von ihrem Nachzugsrecht zu ihrem Kind in Deutschland Gebrauch zu machen, kann dies dazu führen, dass die Eltern sich gezwungen sehen sich gegen den Familiennachzug zu entscheiden. Das würde zur Folge haben, dass das Recht auf Elternnachzug des minderjährigen Kindes mit Flüchtlingsanerkennung faktisch leerliefe.

Zur Bedeutung des EuGH-Urteils für die Beratungspraxis und die Übertragbarkeit der Rechtsprechung auf den Nachzug minderjähriger Geschwister, vgl. Fachinformationen des DRK-Suchdienstes zum Familiennachzug von und zu Flüchtlingen vom 12. August 2024.

Auch der UNHCR hält eine zeitgleiche Visaerteilung für minderjährige Geschwister, welche mit den Eltern im Familienverbund leben und den gemeinsamen Nachzug zum schutzberechtigen Geschwisterkind nach Deutschland begehren, unter Verzicht auf das Erfordernis von Lebensunterhaltssicherung und ausreichendem Wohnraum für geboten, vgl. UNHCR, „Familienzusammenführung zu Personen mit internationalem Schutz - Rechtliche Probleme und deren praktische Auswirkungen", Asylmagazin 4/2017, S. 132-137.

Hinweis! In den Bundesländern Berlin und Schleswig-Holstein gilt grundsätzlich eine günstigere Rechtsauslegung beim Geschwisternachzug minderjähriger Geschwister, so dass die Ausländerbehörden hier dem Geschwisternachzug regelmäßig unabhängig von ausreichendem Wohnraum und Lebensunterhaltsicherung ihre Zustimmung erteilen, sofern beide Elternteile zusammen zum Kind nach Deutschland nachziehen (vgl. Landesamt für Einwanderung, Verfahrenshinweise zum Aufenthalt in Berlin (VAB), Abschnitt 32.1.3.; Integrationsministerium Schleswig-Holstein, Erlass/Behördliche Mitteilung vom 09.03.2020 - IV 203-7587/2020 - asyl.net: M28179).

 

Alternative: Stufenweiser Nachzug der Familienangehörigen

Sollte in der Beratungssituation sichtbar werden, dass die beteiligten Behörden entsprechende Nachweise zur Lebensunterhaltssicherung und ausreichendem Wohnraum fordern und die Visa für die Geschwister voraussichtlich abgelehnt werden, sollte mit den Ratsuchenden auch alternativ die Möglichkeit eines schrittweisen Nachzugs der Familienangehörigen durchdacht werden. Das bedeutet, das zunächst nur ein Elternteil zum unbegleiteten, minderjährigen Kind nach Deutschland einreist, dann hier im Rahmen eines eigenen Asylverfahrens (in der Regel durch einen Antrag auf Familienasyl/Familienschutz nach § 26 Abs. 3 i.V.m. Abs. 5 AsylG) ein den Nachzug ermöglichendes Aufenthaltsrecht erwirbt und dem im Ausland verbliebenen Kind so die Möglichkeit einer Einreise im Wege des vereinfachten Familiennachzugs (Kindernachzug) eröffnet.

Zur Erläuterung dieses Vorgehens empfehlen sich die Arbeitshilfe des Flüchtlingsrat Baden-Württemberg, Hinweise zum Familienasyl und „Kaskadennachzug" (Stand: Februar 2018), sowie die Arbeitshilfe des Paritätischen Gesamtverbandes, GGUA, Familienasyl und internationaler Schutz für Familienangehörige im Kontext des Familiennachzuges (Stand: April 2018).

Beachtet werden sollte, dass soweit der Nachzug eines oder beider Elterteile zum als Flüchtling anerkannten Kind erst nach Eintritt der Volljährigkeit des Kindes erfolgt, die Möglichkeit entfällt, durch einen unverzüglichen Antrag auf „Familienasyl" ebenfalls den (abgeleiteten) Flüchtlingsstatus zu erhalten, da ein solcher Antrag gemäß § 26 AsylG nur so lange möglich ist, wie das hier lebende, schutzberechtigte Kind minderjährig ist. Für die Frage der Minderjährigkeit beim Familienasyl ist auf den Zeitpunkt der formlosen Asylantragsstellung der Eltern abzustellen, vgl. EuGH, Urteil vom 09.09.2021 - C-768/19 SE gg. Deutschland - asyl.net: M29994.