Der Kindernachzug zu Drittstaatsangehörigen richtet sich nach den §§ 27, 29, 32 AufenthG.
Für ein minderjähriges und unverheiratetes Kind besteht ein Nachzugsanspruch, wenn beide Eltern oder der allein sorgeberechtigte Elternteil eine Aufenthaltserlaubnis (hierzu Schutzberechtigte Person in Deutschland) besitzen, vgl. § 32 Abs. 1 AufenthG. Wenn nicht die gesetzlichen Kriterien für eine Ausnahme erfüllt sind, gelten grundsätzlich die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen der §§ 5 und 29 AufenthG (siehe hierzu Vereinfachter Nachzug zu Schutzberechtigten).
Als Kind im Sinne des § 32 AufenthG gilt nicht nur das leibliche Kind, sondern auch das Adoptivkind, vgl. insoweit Art. 4 Abs. 1 Bst. b und Bst. c FamZ-RL. Zu den Anforderungen an die Adoption siehe Ausführungen zu Nachzug der Eltern zu unbegleiteten Minderjährigen.
Pflegekinder haben kein Nachzugsrecht nach § 32 AufenthG. Denkbar ist in diesen Fällen ein Nachzug nach Maßgabe der Härtefallregelung des § 36 Abs. 2 AufenthG.
Ein Nachzugsrecht von Stiefkindern ist umstritten. Während nach dem Wortlaut des Art. 4 Abs. 1 Satz 1 Bst. d FamZ-RL ein Anspruch auf Familienzusammenführung mit einem Stiefelternteil besteht, soll sich das Nachzugsrecht des Stiefkindes an dem des mitziehenden leiblichen Elternteils orientieren. Damit wird es für den Nachzug des Stiefkindes maßgeblich auf die Sicherung des Lebensunterhaltes entsprechend der allgemeinen Voraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG ankommen, da der mitziehende leibliche Elternteil (der selbst im Wege des Ehegattennachzugs einreist) nicht die Privilegierung des § 29 Abs. 2 Satz 2 AufenthG vermitteln kann. Ein Nachzug zum Stiefelternteil soll nur zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte entsprechend § 36 Abs. 2 AufenthG möglich sein, vgl. Nr. 27.1.5. AVwV-AufenthG.
Voraussetzung für den Anspruch auf Erteilung eines Visums zum Kindernachzug ist zudem, dass der Elternteil zu dem der Nachzug begehrt wird, im Besitz des (ggf. alleinigen) Sorgerechts ist. Das Sorgerecht richtet sich in der Regel nach dem Recht des Staates in dem das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat (Art. 16 Abs. 1 KSÜ). Bei gemeinsamen Sorgerecht soll das Visum zum Nachzug zu nur einem sorgeberechtigten Elternteil erteilt werden, wenn der andere Elternteil sein Einverständnis mit dem Aufenthalt des Kindes im Bundesgebiet erklärt hat oder eine entsprechende rechtsverbindliche Entscheidung einer zuständigen Stelle (also z.B. eines Gerichts) vorliegt, vgl. § 32 Abs. 3 AufenthG.
Hinweis! Auch in den Fällen, in denen der in Deutschland lebende sorgeberechtigte Elternteil nicht den Nachweis führen kann, dass er über das alleinige Sorgerecht oder das erforderliche Einverständnis verfügt (z.B. durch Urteil eines Gerichts, vgl. AG Köpenick, Beschluss vom 23.09.2016 - 23 F 68/16 – asyl.net: M24384), weil der andere Elternteil verstorben oder nicht auffindbar ist, verlangen die zuständigen Auslandsvertretungen in der Regel eine Urkunde zum Verbleib des Elternteils (z.B. eine Sterbeurkunde). Im Einzelfall sollte mit der zuständigen Auslandsvertretung geklärt werden, wie ein solcher Nachweis im konkreten Einzelfall erbracht werden kann, vgl. auch Visumhandbuch, Abschnitt "Kindernachzug".
Ein Nachzugsanspruch besteht nach Maßgabe des § 32 Abs. 1 AufenthG nur solang das den Nachzug begehrende, unverheiratete Kind „minderjährig“ ist. Damit kommt der Frage eine erhebliche Bedeutung zu, auf welchen Zeitpunkt für die Bestimmung der Minderjährigkeit abzustellen ist.
Während die deutsche Rechtspraxis bisher auf den Zeitpunkt des Antrags auf Familiennachzug durch das den Nachzug begehrende Kind bei der zuständigen deutschen Auslandsvertretung abstellte, trat der EuGH mit Urteil vom 01.08.2022 dieser Rechtsauffassung für den Kindernachzug zu Eltern mit Flüchtlingsanerkennung entgegen (Urteil vom 01.08.2022 - C-279/20 Deutschland gg. XC - asyl.net: M30815, sowie asyl.net: Meldung vom 01.08.2022). Denn nach Ansicht des Gerichtshof sei Art. 4 Abs. 1 Bst. c FamZ-RL dahingehend auszulegen, dass ein Kind des zusammenführenden Elternteils, der als Flüchtling anerkannt worden ist, auch dann als minderjährig im Sinne der Vorschrift zu behandeln sei, wenn es zum Zeitpunkt der Asylantragstellung des zusammenführenden Elternteils minderjährig war, aber vor dessen Anerkennung als Flüchtling und Stellung des Nachzugsantrags volljährig geworden ist. In einem solchen Fall kann die Familienzusammenführung des Kindes mit dem in Deutschland lebenden Elternteil jedoch nur dann Erfolg haben, wenn der Nachzugsantrag des Kindes innerhalb einer Frist von drei Monaten ab Anerkennung des zusammenführenden Elternteils als Flüchtling bei der zuständigen Auslandsvertretung gestellt wird.
Zur Begründung dieser Rechtsaufassung führt der EuGH im Wesentlichen aus, dass Art. 4 Abs. 1 Bst. c FamZ-RL zwar keine Vorgaben zum maßgeblichen Zeitpunkt für die Bestimmung der Minderjährigkeit im Nachzugsverfahren benenne, den Mitgliedstaaten dahingehend jedoch auch kein eigenes Regelungsrecht zugewiesen sei. Vor diesem Hintergrund würden die Anforderungen der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts sowie der Gleichbehandlungsgrundsatz eine autonome und einheitliche Auslegung der Vorschrift erfordern. Zudem dürfe das Recht auf Familienzusammenführung, wenn es um Minderjährige geht, nicht durch den Zeitaufwand der Entscheidungen über Anträge auf internationalen Schutz oder auf Familienzusammenführung ausgehöhlt werden. Ein Abstellen auf den Zeitpunkt der Asylentscheidung oder der Entscheidung über den Visaantrag des nachziehenden Kindes würde den Grundsätzen der Gleichbehandlung sowie der Rechtssicherheit zuwider laufen, da eine solche Auslegung keine gleiche und vorhersehbare Behandlung aller antragstellenden Personen, die sich zeitlich in der gleichen Situation befinden, gewährleisten. Vielmehr würde der Erfolg des Nachzugsantrags dann von Umständen abhängen, die in der Sphäre der nationalen Behörden oder Gerichte liegen, insbesondere von der mehr oder wenigen zügigen Bearbeitung des Antrags auf internationalen Schutz oder der mehr oder weniger zügigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf gegen die Ablehnung eines solchen Antrags, und damit nicht von Umständen, die in der Sphäre der antragstellenden Person lägen (vgl. Urteil vom 12.04.2018, C-550/16, A und S gegen die Niederlande, Rn. 56 und 60, asylnet: M26143, sowie asylnet: Meldung vom 16.04.2018.
Das Auswärtige Amt hat mittlerweile Weisungen erlassen, die die deutschen Auslandsvertretungen dazu auffordern, die Vorgaben des EuGH wie folgt umzusetzen (vgl. Auswärtiges Amt, Erlass/Behördliche Mitteilung vom 09.09.2022 - 508-543.53/2 - asyl.net: M31184; Auswärtiges Amt, Erlass/Behördliche Mitteilung vom 28.10.2022 - 508-543.53/2; Bundesministerium des Innern, Erlass/Behördliche Mitteilung vom 07.11.2022 - M3-21002/1#73 - asyl.net: M31185; sowie asyl.net: Meldung vom 22.12.2022):
Nach der EuGH-Resprechung und den bisherigen Weisungen ergeben sich aktuell folgende Hinweise für die Beratungspraxis:
Vertiefende Hinweise zum Vorgehen für die Beratungspraxis formulieren die Fachinformationen des DRK-Suchdienstes zum Familiennachzug von und zu Flüchtlingen vom 05. September 2022 sowie die Fortbildungsunterlagen vom 28.09.2022 zur aktuellen Rechtsprechung zum Familiennachzug zu Schutzberechtigten.
Da die FamZ-RL keine Anwendung auf subsidiär Schutzberechtigte findet, kommt eine Übertragung der vom EuGH entwickelten Grundsätze auf diesen Personenkreis bislang nicht in Betracht (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.12.2022 - 1 C 8.21). Gleichsam findet die vorbezeichnete Rechtsprechung keine Anwendung auf sogenannte „Altfälle“, da die Änderung der (wenn auch höchstrichterlichen) Rechtsprechung nach herrschender Meinung keine Änderung der Sach- und Rechtslage im Sinne des § 51 VwVfG darstellt und ein Wiederaufgreifen eines bestandkräftigen Verfahrens damit verwehrt bleibt.
Der Antrag auf Familienzusammenführung sollte zudem hinreichende Ausführungen zum Bestehen einer tatsächlichen familiären Bindung zwischen dem zusammenführenden Elternteil und dem nachzugswilligen Kind enthalten. Dies umfasst Darlegungen zum Familienleben vor und dem gelebten Kontakt der Betroffenen während der Trennung, aber auch Überlegungen zur Gestaltung des künftigen Familienlebens in Deutschland. Denn mit vorbezeichnetem Urteil vom 01.08.2022 entschied der EuGH, dass die Annahme einer tatsächlichen familiären Bindung nicht allein durch das Bestehen des rein rechtlichen Eltern-Kind-Verhältnis getragen werden könne. Eine Ablehnung des Nachzugantrages könne wiederum auch nicht allein darauf gestützt werden, dass die Familie während der Zeit ihrer Trennung, die auf eine Sondersituation des zusammenführenden Elternteils als Flüchtling zurückzuführen ist, kein echtes Familienleben geführt habe und damit keine tatsächliche familiäre Bindung (im Sinne des Art. 16 Abs. 1 Bst. b FamZ-RL) bestehe. Es gehe auch die Annahme fehl, dass jegliche familiäre Bindung mit Eintritt der Volljährigkeit wegfalle. Vielmehr bedürfe es hierfür der Feststellung, dass die familiäre Bindung wirklich gegeben ist oder der Wille besteht, eine solche Bindung herzustellen oder aufrechtzuerhalten. Nach Ansicht des EuGH ist es in diesem Zusammenhang nicht erforderlich, dass sich der zusammenführende Elternteil und sein Kind gegenseitig finanziell unterstützen. Besteht demgegenüber unter den Betroffenen die Absicht einander gelegentlich zu besuchen, sofern dies möglich ist, und regelmäßigen Kontakt zu pflegen, unter Berücksichtigung insbesondere der ihre Situation kennzeichnenden tatsächlichen Umstände, zu denen das Alter des Kindes gehört, kann dies die Annahme rechtfertigen, dass sie persönliche und emotionale Beziehungen wieder aufbauen, und als Beleg für das Bestehen einer tatsächlichen familiären Beziehung genügen.
Deutschkenntnisse oder eine positive Integrationsprognose des nachzugswilligen Kindes werden nicht verlangt, soweit der Nachzug zu einem Elternteil erfolgt, der eine Aufenthaltserlaubnis als Asylberechtigter, anerkannter Flüchtling oder subsidiär Schutzberechtigter besitzt, vgl. § 32 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 AufenthG. Beim Nachzug von 16- oder 17-jährigen Kindern zu Personen mit anderen Aufenthaltstiteln (z.B. Abschiebungsverbot) gelten hingegen deutlich höhere Anforderungen, sofern das Kind nicht in zeitlichem Zusammenhang mit seinen Eltern oder dem allein personensorgeberechtigten Elternteil seinen Lebensmittelpunkt nach Deutschland verlegt. 16- und 17-jährigen Kindern wird in diesen Fällen ein Nachzug nur erlaubt, wenn sie bereits die deutsche Sprache beherrschen (C1-Niveau) oder gewährleistet erscheint, dass sie sich auf Grund ihrer bisherigen Ausbildung und Lebensverhältnisse in die Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland einfügen können, etwa weil sie in Deutschland oder in einem anderen EU-Staat aufgewachsen sind (vgl. § 32 Abs. 2 Satz 1 AufenthG, siehe hierzu Visumhandbuch, Abschnitt "Kindernachzug").
Vom Erfordernis der Sicherung des Lebensunterhaltes und dem Nachweis ausreichenden Wohnraums ist in den Fällen des § 29 Abs. 2 AufenthG abzusehen, vgl. Ausführungen unter Vereinfachter Familiennachzug zu Schutzberechtigten.
Volljährige Kinder haben – mit Ausnahme der oben beschriebenen Konstellation entsprechend der Rechtsprechung des EuGH vom 01.08.20222 – keinen Nachzugsanspruch gemäß § 32 Abs. 1 AufenthG. Die Erteilung eines Visums zum Zweck des Familiennachzugs steht in diesen Fällen im Ermessen der Behörden und erfordert grundsätzlich das Vorliegen einer außergewöhnlichen Härte, vgl. hierzu Ausführungen zu § 36 Abs. 2 AufenthG – Nachzug sonstiger Familienangehöriger. Zudem gilt im Falle des § 36 Abs. 2 AufenthG die Voraussetzung des Nachweises der Sicherung des Lebensunterhalts sowie ausreichendem Wohnraum. In speziellen Einzelfällen kann bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen eine individuelle humanitäre Aufnahme im Rahmen des § 22 Satz 1 AufenthG in Betracht kommen, vgl. hierzu Aufnahme nach § 22 Satz 1 AufenthG. Dies sollte gegebenenfalls im Rahmen einer Beratung umfassend geprüft werden.
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