Der Elternnachzug zu minderjährigen Drittstaatsangehörigen richtet sich nach den §§ 27, 29, 36 Abs. 1 AufenthG.
Hält sich ein minderjähriges Kind, welches eine Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Abs. 4 (Resettlement-Flüchtlinge), § 25 Abs. 1 (Asylberechtigte) oder Abs. 2 Alt. 1 (anerkannte Flüchtlinge) AufenthG oder eine dementsprechende Niederlassungserlaubnis besitzt im Bundesgebiet ohne einen sorgeberechtigten Elternteil auf (unbegleitet), gewährt § 36 Abs. 1 AufenthG den Eltern dieses Kindes einen Nachzugsanspruch.
Als „Eltern“ gelten hierbei zunächst die leiblichen Eltern gemäß § 1589 BGB. Der Nachzugsanspruch kann grundsätzlich aber auch Adoptiveltern zustehen (vgl. BT-Drs. 16/5065, S. 176). Denn nach dem deutschen Recht führt eine Adoption dazu, dass Verwandtschaftsverhältnisse zu den leiblichen Eltern erlöschen und das Verwandtschaftsverhältnis zu den Annehmenden gemäß §§ 1754, 1755 BGB begründet wird. So werden die Adoptiveltern zu Verwandten in gerader aufsteigender Linie ersten Grades, wie es Art. 10 Abs. 3 Bst. a FamZ-RL für einen Nachzugsanspruch verlangt. Gemäß § 22 EGBGB unterliegt die Adoption dem Recht des Staates, welchem die Person angehört, die das Kind annehmen will. Daher ist im Einzelfall unter Hinzuziehung des jeweiligen Rechtsregimes zu prüfen, ob eine dem deutschen Recht vergleichbare Volladoption angenommen werden kann, durch die eine entsprechende Verwandtschaftsbeziehung begründet wird.
Die Voraussetzung, dass sich kein sorgeberechtigter Elternteil im Bundesgebiet aufhält, ist im Übrigen auch dann erfüllt, wenn ein Elternteil zeitgleich oder im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit dem anderen Elternteil den Lebensmittelpunkt ins Bundesgebiet verlagert (BVerwG, Urteil vom 18.04.2013 - 1 C 9.12, Rn.13, asyl.net: M20813). Die effektive Durchsetzung des Minderjährigenschutzes nach Art. 10 Abs. 3 Bst. a FamZ-RL verbietet zudem jede rechtswidrige Verwaltungspraxis, welche den grundsätzlich beiden Eltern zustehenden Nachzugsanspruch vereitelt.
Anders als in den vorbezeichneten Fällen ist im Rahmen des Elternnachzugs grundsätzlich von den Voraussetzungen der Lebensunterhaltssicherung und dem Nachweis ausreichenden Wohnraums abzusehen, vgl. § 36 Abs. 1 AufenthG. Dies deckt sich insoweit mit den europarechtlichen Vorgaben der FamZ-RL. Denn gemäß Art. 10 Abs. 3 a) FamZ-RL haben die Mitgliedstaaten den Eltern eines unbegleiteten minderjährigen Kindes die Einreise und den Aufenthalt unabhängig von diesen Voraussetzungen zu gestatten.
Zudem ist kein Nachweis von Sprachkenntnissen erforderlich.
Ein Anspruch auf Elternnachzug besteht nach Maßgabe des § 36 Abs. 1 AufenthG nur solange das in Deutschland lebende, unbegleitete Kind „minderjährig“ ist. Damit kommt der Frage eine erhebliche Bedeutung zu, auf welchen Zeitpunkt für die Bestimmung der Minderjährigkeit des den Nachzug vermittelnden Kindes abzustellen ist.
In einem wegweisenden Urteil vom 12.4.2018 entschied der Europäische Gerichtshof (EuGH) hierzu, dass eine Person, die zum Zeitpunkt ihrer Einreise und Asylantragstellung in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union unter 18 Jahre alt war, aber während des Asylverfahrens die Volljährigkeit erreicht und später als Flüchtling anerkannt wird, als minderjährig im Sinne der Definition von Art. 2 Bst. f FamZ-RL anzusehen ist und daher ein Recht auf Familiennachzug nach Art. 10 Abs. 3 Bst. a FamZ-RL fortbesteht, soweit der Familiennachzug innerhalb von 3 Monaten nach Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft beantragt wird (vgl. Urteil vom 12.04.2018, C-550/16, A und S gegen die Niederlande, asyl.net: M26143, sowie asyl.net: Meldung vom 16.04.2018).
Das Auswärtige Amt lehnte die Anwendung des vorbezeichneten EuGH-Urteils und damit einen Nachzug der Eltern nach Erreichen der Volljährigkeit des als Flüchtling anerkannten Kindes lange unter Bezugnahme auf die bisherige Rechtsprechung des BVerwG ab, wonach für die Beurteilung der Minderjährigkeit auf den Zeitpunkt der letzten behördlichen/ tatsachengerichtlichen Entscheidung abzustellen sei (vgl. Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der BT-Abgegeordneten Ulla Jeplke vom 21.01.2019, S. 26). Zudem wurde darauf verwiesen, dass der niederländische Rechtsrahmen nicht mit der in Deutschland geltenden Gesetzeslage vergleichbar sei, da das deutsche Aufenthaltsgesetz den nachziehenden Eltern kein eigenständiges Aufenthaltsrecht vermitteln würde, sobald das hier lebende Kind die Volljährigkeit erreiche.
Mit Urteil vom 01.08.2022 bestätigte der EuGH seine vorbezeichnete Rechtsprechung auch für den deutschen Rechtsraum (EuGH, Urteil vom 01.08.2022 - C-273/20, C-355/20 Deutschland gg. SW, BL und BC - asyl.net: M30811, sowie asyl.net: Meldung vom 01.08.2022) und stellte nochmals klar, dass ein Abstellen auf den Zeitpunkt, zu dem die zuständige Behörde über den Antrag auf Einreise und Aufenthalt im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaates zum Zweck der Familienzusammenführung entscheidet (Entscheidung über den Nachzugsantrag der Eltern), als Zeitpunkt, nach dem sich die Beurteilung der Minderjährigkeit des hier lebenden anerkannten Flüchtlings richtet, weder mit den Zielen der Richtlinie betreffend das Recht auf Familienzusammenführung (FamZ-RL) noch mit den Anforderungen in Einklang stünde, die sich aus der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ergeben. Daher darf der Antrag auf Familiennachzug von Eltern zu hier lebenden, ursprünglich als unbegleitete Minderjährige eingereisten anerkannten Flüchtlingen nicht mit dem Argument abgelehnt werden, dass die hier lebende Person vor der Entscheidung über den Antrag auf Familienzusammenführung bereits volljährig geworden ist.
Darüber hinaus machte der EuGH deutlich, dass Art. 13 Abs. 2 i.V.m. Art. 13 Abs. 1 FamZ-RL die Mitgliedstaaten verpflichte, den Angehörigen ein Aufenthaltsrecht für mindestens 1 Jahr zu gewähren, sobald ihrem Antrag auf Familiennachzug stattgegeben wurde. Daraus resultiere die Pflicht den Aufenthaltstitel der Eltern auch dann für ein Jahr zu erteilen, wenn der Minderjährige bereits die Volljährigkeit erreicht habe.
Weiter stellte der EuGH in dem Urteil vom 01.08.2022 zudem heraus, dass die Ablehnung eines Antrags auf Familienzusammenführung eines Elternteils/ der Eltern mit dem als Flüchtling anerkannten minderjährigen Kind nicht allein damit begründet werden kann, dass die Familie während der Zeit ihrer Trennung, die auf eine Sondersituation des Kindes als Flüchtling zurückzuführen ist, kein echtes Familienleben geführt habe und damit keine tatsächliche familiäre Bindung (im Sinne des Art. 16 Abs. 1 b) FamZ-RL) bestehe. Es gehe auch die Annahme fehl, dass jegliche familiäre Bindung mit Eintritt der Volljährigkeit wegfalle. Demgegenüber betont der EuGH aber auch, dass die bloße Verwandtschaft in gerader aufsteigender Linie ersten Grades für die Annahme einer tatsächlichen familiären Beziehung nicht genüge. Vielmehr bedürfe es hierfür der Feststellung, dass die familiäre Bindung wirklich gegeben ist oder der Wille besteht, eine solche Bindung herzustellen oder aufrechtzuerhalten. Nach Ansicht des EuGH ist es in diesem Zusammenhang nicht erforderlich, dass das zusammenführende Kind und der betreffenden Elternteil/ die Eltern im selben Haushalt bzw. unter einem Dach zusammenleben oder sich gegenseitig finanziell unterstützen. Auch gelegentliche Besuche, sofern sie möglich sind, und regelmäßige Kontakte jedweder Art können die Annahme begründen, dass diese Personen persönliche und emotionale Beziehungen wieder aufbauen, und damit als Beleg für das Bestehen einer tatsächlichen familiären Beziehung genügen. Dies sollte im Antragsverfahren hinreichend dargelegt werden.
Das Auswärtige Amt hat in Bezugnahme auf die Rechtsprechung Weisungen erlassen, die die deutschen Auslandsvertretungen dazu auffordern, die Vorgaben des EuGH wie folgt umzusetzen (vgl. Auswärtiges Amt, Erlass/Behördliche Mitteilung vom 07.12.2021 - 508-2-543.53/2 - asyl.net: M31186; Auswärtiges Amt, Erlass/Behördliche Mitteilung vom 09.09.2022 - 508-543.53/2 - asyl.net: M31184; Auswärtiges Amt, Erlass/Behördliche Mitteilung vom 28.10.2022 - 508-543.53/2; Bundesministerium des Innern, Erlass/Behördliche Mitteilung vom 07.11.2022 - M3-21002/1#73 - asyl.net: M31185; sowie asyl.net: Meldung vom 22.12.2022):
Mit Urteil vom 30.01.2024 entschied der EuGH (EuGH, Urteil vom 30.01.2024 - C-560/20 - CR, GF, TY gg. Österreich - asyl.net: M32150) sodann in einem weiteren Vorabentscheidungsersuchen, dass solange das unbegleitete Kind mit Flüchtlingsanerkennung zum Zeitpunkt der Visumsantragstellung der Eltern noch minderjährig ist, die Eltern bei ihrer Visumsantragstellung keine Frist (von drei Monaten) einhalten müssen, um nach den günstigeren Bedingungen (des Elternnachzugs zu minderjährigen Kindern mit Flüchtlingsanerkennung) einreisen zu können, auch wenn das nachzugsvermittelnde Kind während des Visumsverfahren volljährig wird. Das Ziel von Art. 10 Abs. 3 a) FAMZ-RL sei es insbesondere die Zusammenführung unbegleiteter minderjähriger Geflüchteter mit ihren Eltern zu begünstigen. Daher könne eine Frist für die Stellung eines Antrags zur Familienzusammenführung der Eltern nicht zu laufen beginnen, bevor das Kind mit Flüchtlingsanerkennung volljährig wird (vgl. Rn. 40 des Urteils). Der EuGH stellt in dem Urteil weiter fest, dass weder von dem Kind noch von seinen nachziehenden Eltern verlangt werden darf, dass sie für sich (und für die schwer kranke Schwester) über ausreichend großen Wohnraum, Krankenversicherung sowie hinreichende Mittel zur Lebensunterhaltssicherung verfügen.
Nach der EuGH-Rechtsprechung und den bisherigen Weisungen ergeben sich aktuell folgende Hinweise für die Beratungspraxis:
Die soeben genannten Voraussetzungen für den Elternnachzug gelten im Übrigen auch bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen (GFK), die verheiratet sind: Der EuGH entschied in einem Urteil vom 17.11.2022, einen Fall aus Belgien betreffend, dass ein unbegleiteter minderjähriger Flüchtling nicht unverheiratet sein muss, um das Recht auf Elternnachzug nach der EU-Familienzusammenführungsrichtlinie zu erlangen (EuGH, Urteil vom 17.11.2022 - Rechtssache C‑230/21).
Da die FamZ-RL keine Anwendung auf subsidiär Schutzberechtigte findet, kommt eine Übertragung der vom EuGH entwickelten Grundsätze auf diesen Personenkreis bislang nicht in Betracht (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.12.2022 - 1 C 31.21, BVerwG, Urteil vom 08.12.2022 - 1 C 59.20, BVerwG, Urteil vom 08.12.2022 - 1 C 56.20). Gleichsam findet die vorbezeichnete Rechtsprechung keine Anwendung auf sogenannte „Altfälle“, da die Änderung der (wenn auch höchstrichterlichen) Rechtsprechung nach herrschender Meinung keine Änderung der Sach-und Rechtslage im Sinne des § 51 VwVfG darstellt und ein Wiederaufgreifen eines bestandskräftigen Verfahrens damit verwehrt bleibt.
Vertiefende Hinweise zum Vorgehen für die Beratungspraxis formulieren die Fachinformationen des DRK-Suchdienstes zum Familiennachzug von und zu Flüchtlingen vom 05. September 2022 sowie die Fortbildungsunterlagen vom 28.09.2022 zur aktuellen Rechtsprechung zum Familiennachzug zu Schutzberechtigten.
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